Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Es gibt kein Entkommen. Mit großen Schritten wandert er ins Tal. Sein Stab – ein Stecken, größer als er selber - schwingt in der seine Rechten. Ihm folgen die Schafe. Eng aneinander gekauert laufen sie ihm hinterher. Unmöglich, sie zu zählen. Es geht an Wasserbächen vorbei und über grüne Auen. Sobald die Herde etwas Platz hat, versuchen einzelne Tiere auszuscheren. Doch es gibt kein Entkommen. Sofort ist der Hirtenhund zur Stellen und treibt sich zurück zur Herde.

Eine riesige Herde, 700 Tiere oben auf der Sommerweide. Jetzt treibt sie der junge Schweizer ins Tal. Viele Kleinbauern sind gekommen, um ihre paar Tiere in Empfang zu nehmen. Sie hatten sie dem Hirten anvertraut für die paar Monate oben auf der Sommerweide. Er bringt sie alle zurück ins Tal. Keines fehlt. Nicht ein einziges!

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Früher blickte der Pastor aus dem Fenster, um für die Predigt zum Sonntag Misericordias Domini die stimmigen Bilder und Wörter zu bekommen. Die Weiden waren nicht fern vom Pfarrhaus. Heute geht das nicht mehr. Heute muss der Pastor auf den Bildschirm gucken und nach Hirten und Schafen googeln. Auf YouTube entdecke ich einen schönen Film des Schweizer Fernsehens über einen Schäfer. Es muss auch etwas in die Kamera sagen. Das fällt ihm sichtlich und hörbar schwer. Nicht nur der schwere Schweizer Akzent. Man merkt, dass das Reden nicht sein Metier ist. Er ist ja Monate lang allein oben auf dem Berg mit seiner riesigen Herde. Das Vokabular, um den Hirtenhund zu dirigieren, ist überschaubar. Im Winter, so erzählt er, ist er auch allein und auch auf dem Berg. In seinem Pistenbulli, oft die ganze Nacht, bis die Gondeln wieder ihren Betrieb aufnehmen.

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Es gibt kein Entkommen. Heute werden wir eingebunden, festgenagelt, eingepfercht in das Bild von der Herde, von den Schafen und vom Hirten. Heute also nicht: Liebe Gemeinde oder liebe Schwestern und Brüder, heute: Liebe Herde, hier spricht euer Hirt, lat.: Pastor. Oder: Liebe Schafe!

Kein Sonntag ist so monothematisch wie dieser Misericordias Domini, die Barmherzigkeit des Herrn: unbarmherzig legt sich das Herden- und Hirte-Bild über alle Texte. Es zeigt sich: ein durchgängiges Motiv in der Bibel. Es gibt kein Entkommen.

Liebe Schafe, ihr merkt es, mir ist das Bild unangenehm. Unangenehm ist es mir auch, wenn mich manche – vor allem kirchenfernere - Menschen fragen: Wie viele Schäfchen haben sie denn, Herr Pastor? Ich antworte dann betont sachlich: Unsere Gemeinde hat etwa 700 Mitglieder.

Woher kommt der Eindruck des unpassenden, das Gefühl, dass da etwas nicht oder nicht mehr stimmig ist?

Eine Schafsherde ist wirklich eine Herde. Der Schweizer Hirtenfilm hat es bestätigt: Alle laufen in die gleiche Richtung, alle laufen ihrem Hirten hinterher, sie laufen ganz eng zusammen und man kann sie beim besten Willen nicht auseinanderhalten. Sie sehen alle gleich aus.

Eine Gemeinde ist keine Herde. Ich bin auch nicht der Hirte, der die Gemeinde führt, sondern das macht das Consistorium, und das führt nicht die Gemeinde, sondern leitet sie. Und wenn im Consistorium gefragt wird, was will denn die Gemeinde, ist meist keine klare Antwort möglich, denn die einen wollen dies und die anderen wollen jenes.

Eine Gemeinde ist keine Herde und eine reformierte Gemeinde in Berlin schon grad gar nicht. Das ist ein Sammelsurium an Individualisten.

Ein zweiter Einwand gegen das Hirte- und Herden-Motiv: Reduziert dieses Bild nicht alles auf eine gewisse regressive Sehnsucht nach Behütetsein? Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. … Und ob ich wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück.

Wir leben in einer Hochsicherheitsgesellschaft. Täglich lernen wir neue Vorsichtsmaßnahmen, die das Leben sicherer machen. Schon vor den Zeiten der Pandemie war das so, aber jetzt ist nochmal deutlicher geworden: Jeder muss auf sich selber aufpassen. Nicht nur die Landeshirten, auch die Gerichte verbieten Mutti die Überbehütung und die allzu starke Einschränkung der Schafsfreiheiten. Jeder muss auf sich selber aufpassen. Ein Restrisiko bleibt also. Soll für dieses Restrisiko Gott in Anschlag gebracht werden? Soll der Glaube an den behütenden Hirtengott eine Art Restrisikolebensversicherung sein? Gibt es denn von Gott nicht mehr zu erwarten, als dass er in der seelenruh in der Landschaft steht und auf uns aufpasst? So berechtigt und nachvollziehbar der Wunsch nach Behütung einerseits ist, so engführend ist er andererseits doch auch.

Wer biblisch über Gott redet, hat viel mehr zu bieten, als Behütung auf all unseren Wegen. Deshalb kann ich mich mit der Berufsbezeichnung Prediger viel besser anfreunden, als mit Pastor, also Hirte.

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Schauen wir genauer hin! Es gibt mehr zu entdecken, als der etwas schlichte Psalm 23 mit seiner eindimensionalen Behütungsromantik vermuten lasst.

Zunächst: Der Hirt ist nicht der Pastor, nicht der Pfarrer. Der Hirt ist Gott. Der gute Hirt ist Jesus Christus. Die menschlichen Hirten, die Priester und die Könige, das religiöse und das politische Führungspersonal hat versagt, klagt Ezechiel.

 

So spricht Gott, der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! (Ez 34,2) … Denn so spricht Gott, der Herr: Seht, ich selbst, ich werde nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. (Ez 34,11)

 

Sodann: die Schafe erkennen die Stimme ihres Hirten. Die Schafe hören auf seine Stimme, und er ruft die eigenen Schafe mit Namen und führt sie hinaus (Joh 10,3). Schafe sind keine dummen Tiere. Sie können die Stimmen unterscheiden. Schafe brauchen keine Vordenker und keine Wortführer. Christenmenschen sind mündige und urteilsfähige Menschen. Sie hören sehr genau heraus, wenn in der Kirche Zeug gesprochen wird, das so ganz anders klingt, als das, was sie aus der Bibel gehört haben.

Heute vor genau 500 Jahren stand Martin Luther auf dem Wormser Reichstag vor Kaiser Karl V., dem mächtigsten Mann der damaligen Zeit, und sollte seine Schriften widerrufen. Er lehnte das ab. Päpste und Konzile können irren. Nur, wenn er aus der Heiligen Schrift widerlegt werde, würde er widerrufen. Martin Luther war so ein Schaf, das die Stimme seines guten Hirten Jesus Christus erkannt hat und sie sehr wohl von den Stimmen falscher Pastoren zu unterscheiden wusste.

Menschen kommen in die Gemeinde – nicht um vom Pastor von den Gefahren des Lebens beschützt zu werden, sondern um aus seinen Worten die Worte Gottes herauszuhören. Und sie hören sehr genau den biblischen oder unbiblischen Klang seiner Worte heraus.

Schließlich – und das ist mir das wichtigste: Dieser Hirte – Gott - ist nicht bloß einer, der dasteht, behütet und aufpasst, dass nichts passiert. Dieser Hirte ist einer, der das Verlorene sucht.

Was verloren gegangen ist, werde ich suchen, und was versprengt worden ist, werde ich zurückholen, und was gebrochen ist, werde ich verbinden, und was krank ist, werde ich stärken, spricht Gott. (Ez 34,16)

Jesus fragt: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? (Lk 15,4)

Sind es wirklich so viele Menschen, die das tun würden? Oder wägen wir Menschen nicht ab und kalkulieren: 99 in der Wüste lassen, dem Risiko aussetzen, um einem einzigen nachzugehen? Lohnt sich das? Wie viele auf dem Land verlorene Schafe müssen es denn sein, bis die Kirche einen Pastor zu ihnen schickt? Die Kirche rechnet und wägt ab. Pastoren kosten Geld und bei allem, wo Geld eine Rolle spielt, wird gerechnet und abgewogen und die Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht.

Nur Gott leistet es sich, jedem einzelnen nachzugehen. Es ist ihm nichts zu teuer. Er geht ihm nichts verloren. Es entkommt ihm keiner.

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Habt ihr schon mal eine fliegende Kuh gesehen? In dem Schweizer Hirtenfilm wird auch ein Alp-Kuhhirte vorgestellt. Eigentlich ein ruhiger Job, es sei denn, eine Kuh stolpert in dem schwierigen Gelände dort oben und stürzt, dann kriegt der Hirte Stress. Man sieht ihn in die Hütte rennen und den Rettungshubschrauber bestellen, dann lässt die anderen Kühe allein, rennt er zu einem Geländewagen, rast die holprigen Alpwege zur Unfallstelle entlang, um dem Helikopter zu winken, schnallt die Kuh ins Geschirr und dann sieht man eine Kuh durch die Alpen fliegen – unter einem Helikopter.

Was verloren gegangen ist, werde ich suchen, und was versprengt worden ist, werde ich zurückholen, und was gebrochen ist, werde ich verbinden, und was krank ist, werde ich stärken, spricht Gott.

So macht er’s, der treue Gott, der gute Hirte. Ohne zu rechnen, ohne zu berechnen. Er sucht und er findet alles Verlorene.

Und selbst die, die wir ganz verloren haben an Sünd, Tod und Teufel und an dieses verdammte Virus, auch die wird er finden und sie aus dem Tod rufen. Christus ist auferstanden von den Toten als erster von denen, die leben werden. Auch wir werden von den Toten auferstehen. Diesem Gott geht nichts verloren. Es gibt kein Entkommen vor dem Leben, das Gott wiedergebracht hat. Er führt uns aus dem finstern Tal ans frische Wasser, auf die grüne Au, in die himmlische Stadt.

Amen.

Fürbitten:

Barmherziger Gott, guter Hirte,

Verlier uns nicht!

Verlier nicht die, die sich in abwegigen Theorien und im Querdenken verrannt haben. Verlier nicht die, die müde geworden sind, die nicht mehr können und zurückbleiben.

Verlier auch nicht die Leithammel aus den Augen, wenn sie uns an den Abgrund führen, weil sie nicht vorausschauen, sondern nur darauf Rücksicht nehmen, dass ihnen die anderen folgen.

Deiner Gemeinde gibt geistige Nahrung und führe sie an die frischen Quellen deiner Liebe.

Behüte die Schwachen, heile die Kranken, uns allen gib bald die Herdenimmunität.

Wir bitten dich heute für alle, die an dieser Seuche gestorben sind, in unserer Gemeinde, in unserer Kirche, in unserer Stadt, in unserem Land, in allen Ländern und Kontinenten. Es sind zu viele. Lass jetzt genug sein.

Tröste alle Trauernden. Sag ihnen, dass du die toten nicht verlieren wirst, dass du sie rufen wirst und sie dir folgen werden, auf die grüne Aue, zum frischen Wasser und in die himmlische Stadt.