Ein neuer König stand auf über Ägypten, der nichts von Josef wusste. Er sprach zu seinem Volk: Siehe, das Volk der Söhne und Töchter Israels ist uns zu viel und zu stark. Auf, überlisten wir es, sonst mehrt es sich noch, und es könnte geschehen, wenn Krieg ausbricht, dass es unsern Hassern sich zugesellte und gegen uns Krieg führt und wegzieht vom Land. Sie setzten Zwangsvögte über es, um es mit ihren Lasten zu drücken. Es baute Vorratsstädte für Pharao, Pitom und Ramses. Aber je mehr sie es bedrückten, umso mehr mehrte es sich, breitete sich aus; es graute ihnen vor den Söhnen und Töchtern Israels. Die Ägypter machten die Söhne und Töchter Israels dienstbar mit Verfronung. Sie machten ihr Leben bitter mit hartem Dienst in Lehm und in Ziegeln und mit allerlei Dienst auf dem Feld: all ihr Dienst, zu dem man sie dienstbar machte, geschah mit Verfronung. Der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen (oder: zu den Hebammen der Hebräerinnen), der Name der einen war Schifra, der Name der andern Pua: Wenn ihr den Hebräerinnen gebären helft, seht zu: ist es ein Sohn, tötet ihn, ist es eine Tochter, darf sie leben. Aber die Hebammen fürchteten Gott, sie taten nicht, wie der König von Ägypten zu ihnen geredet hatte, sie ließen die Kinder am Leben. Der König von Ägypten berief die Hebammen und sprach zu ihnen: Weshalb tut ihr dies und lasst die Kinder am Leben? Die Hebammen sprachen zu Pharao: Nicht wie die ägyptischen Frauen sind die hebräischen, wie Tiere sind sie, ehe zu ihnen die Hebamme kommt, haben sie schon geboren. Gott erwies den Hebammen Gutes. Das Volk aber mehrte sich, sie wurden sehr stark. Es geschah, als die Hebammen Gott gefürchtet hatten – er machte ihnen Häuser. Pharao gebot seinem ganzen Volk: jeder Sohn, der geboren wird, werft ihn in den Fluss, aber jede Tochter lasst am Leben.
Der neue König kennt Josef nicht. Er weiß nicht, wieviel Gutes Josef für Ägypten getan hat. Wir aber wissen nicht, ob das geschichtliche Wissen etwas genützt oder es noch schlimmer gemacht hätte.
Es sind zu viele, sagt er. Ojwe, ja, das kennen wir. Noch heute antworten Menschen auf die Frage, wie viele Juden und Jüdinnen es in Deutschland gab und sogar gibt, nicht selten mit Zahlen in Millionenhöhe. Wir kennen das Reden von der Welle, der Flut und dem großen Austausch und, ja, immer wieder zu viel Einfluss. 21 % der Deutschen denken nach einer Bertelsmann-Studie vom März 2024, dass Juden zu viel Einfluss haben.
Aber dass die Israelit*innen mehr als die ca. zwei bis drei Millionen Ägypter*innen waren, die Bevölkerung einer Großmacht, kann nicht recht stimmen, selbst wenn sich die Zahlen der in Ägypten lebenden Israelit*innen / Hebräer*innen gut entwickelt hat, wenn wir dem ExodusBuch Glauben schenken dürfen.
Panikmache, die überzeugt. Das Gerücht über die Juden. Kein Feind im Anmarsch, noch nicht einmal in Sicht, aber die Juden sind unsichere Kandidat*innen, sie könnten ja überlaufen. Panikmache, die überzeugt. Das Gerücht über die Juden.
Wir wollen sie überlisten. So sagt der Pharao. Die List ist eher ein brutaler, wenig listiger, vielmehr sehr deutlicher Plan: Zwangsarbeit, die dann zu Sklavenarbeit weiterverschärft wird.
Doch der Plan, die Zahl der Israelit*innen dadurch zu minimieren geht nicht auf. Trotz Unterdrückung fährt Israel fort, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Den Ägyptern graut es vor ihnen. Das entsprechende Wort (kuz) kann an anderen Stellen auch sich ekeln, angewidert sein heißen. Staatlich produziertes Entsetzen, das zur Feindschaft erzieht, zur Kollaboration mit dem König anleitet. Die Gewalt als Auswirkung des Gerüchts über die Juden nimmt zu.
Zwei Frauen, Schifra und Pua, vielleicht Hebräerinnen, aber vielleicht auch für die „Geburtenkontrolle“ abgestellte Ägypter*innen, sollen nun die männlichen neugeborenen Israeliten sterben lassen. Doch sie fürchten Gott mehr als den Pharao und widerstehen. Sie tun nicht, was ihnen befohlen ward, kein Befehlsnotstand wird später für eine Rechtfertigung des Mordens nötig sein. Denn sie morden nicht. Und so misslingt auch dieser genozidale Plan.
Einbestellt überlisten nun sie den Pharao, allerdings auch mit einem „Gerücht“, das uns ein wenig erzittern lässt. Die Hebräerinnen seien wie Tiere. Ein Bild, das wir aus dem Arsenal der Denunzierung des Fremden, auch des Juden, der Jüdin kennen. Das Naturhafte, bei Frauen wilde, gepaart mit Unterlegenheitsgefühlen bei den Judenfeinden. Toxische Mischungen schon hier. Aber hier erzählt, um ihren Widerstand zu schützen! Listig.
Doch die Aussage der beiden Hebammen, so geschickt sie klingt, erweist sich als vergeblich, als Scheitern; auch das gehört zum Predigttext: der Pharao erteilt den Mordbefehl nun seinem ganzen Volk.
Macht das den Widerstand dieser Frauen weniger wertvoll? Das sei ferne, aber es zeigt den Realitätssinn der Hebräischen Bibel. Auch der Widerstand der Frauen in der Rosenstraße Ende Februar, Anfang März 1943 in Berlin, hat am Ende nicht viele Männer gerettet, aber war ein unschätzbar wichtiges Zeichen des Widerstands, das kurzfristig zur Freilassung vieler Männer führte und zu einem kurzen Innehalten der Deportation.
Im Exodus-Buch kommen dann wieder Frauen, die den Untergang Israels verhindern. Moses Mutter, die den Sohn in das Schilfkörbchen legt; die Tochter des Pharao, die Mose rettet, jenen Mose, der Israel auf Gottes Geheiß aus der Sklaverei führen wird.
Hebammen – Lebenszeichen gegen todbringende Gerüchte. Am 9. November 1938 hätte es davon mehr geben sollen, müssen. Und das macht die wenigen für uns so wichtig, auch wenn sie die Katastrophe nicht verhindern konnten.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber der 9. November als Gelegenheit zum Gedenken, zum Nachdenken und um immer wieder neu widerstehende Lebenszeichen zu senden.
Hebammen-Lebenszeichen – leuchten auf im Leben der Maria von Maltzan. Sie wurde 1909 in eine adelige Familie in Schlesien geboren. Sie studierte in München Zoologie und Veterinärmedizin und promovierte 1933 in Naturwissenschaften.Während der Zeit des Nationalsozialismus schmuggelte Maria nicht nur Informationen für Widerstandsgruppen, sondern auch Menschen in Möbelkisten. Ihre Zusammenarbeit mit der Schwedischen Kirche in Berlin, die vermutlich sechzig politisch und rassisch verfolgten Menschen half, Deutschland zu verlassen, folgte einem genialen Plan: Schwedischen Bürgern war es erlaubt, ihr in Berlin verbliebenes Mobiliar in ihre Heimat bringen zu lassen. Für diese Transporte wurden an bestimmten Tagen Waggons der Reichsbahn zur Verfügung gestellt und nach der Beladung verplombt. Aufgabe von Maria war es, Ausweispapiere zu besorgen und die Flüchtlinge an eine verabredete Stelle außerhalb Berlins zu bringen, wo die Waggons entladen wurden und dann mit lebenden „Schwedenmöbeln“ beladen die Fahrt in die Freiheit antraten.
Damit nicht genug: in ihrer Wohnung fanden mehrere Verfolgte Unterschlupf, so auch ihr jüdischer Freund Hans Hirschel. Wenn die Gestapo ihre Wohnung durchsuchte, versteckte sie ihn im Bettkasten ihres extravaganten Mahagoni-Klappsofas. Einmal erklärte sie den Nazis, die das Sofa aufbrechen wollten, kühl: „Schießen Sie es ruhig auf – aber den Schaden ersetzen Sie mir dann!“ Die Herren zogen ab. Ein anderes Mal, im Winter, als die Gestapo ihr Haus überwachte, goss sie Wasser in den Hof, das über Nacht gefror. Die Überwacher rutschten scheppernd auf dem Eis aus, und Maria rief die Polizei, um die vermeintlichen „Einbrecher“ festnehmen zu lassen. Zu ihren waghalsigen Taten gehörte die Begleitung einer Jüdin als Schwimmerin über den Bodensee bei deren Flucht in die Schweiz. Im Frühjahr 1944 nimmt sie die zwölfjährige Tamara Segal und ihre jüngere Schwester Luzie aus Minsk bei sich auf. Die jüdischen Mädchen leben bis Kriegsende bei ihr.
Maria von Maltzan wird oft als furchtlos dargestellt. Ich denke, sie war außergewöhnlich mutig, aber sie kannte doch auch Furcht – um sich selbst und mehr noch um andere. Nach dem Krieg litt sie an schweren gesundheitlichen Problemen und einer Medikamentenabhängigkeit, die sie schließlich doch bezwingen konnte. Es gelang ihr, ihre Arbeit als Tierärztin wiederaufzunehmen. Mit Mitte 60 startete sie noch einmal durch, eröffnete eine Tierarztpraxis in Berlin-Kreuzberg und wurde hoch verehrt von Kreuzberger Punks, weil sie deren Haustiere kostenlos behandelte.
Für ihre außergewöhnlichen Taten im Widerstand wurde sie 1987 als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt und 1989 mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet. Viel zu lange brauchte es, um dieser Frau Anerkennung zuteilwerden zu lassen. Maria von Maltzan starb 1997.
Wer der Macht den Gehorsam verweigert, braucht wohl nicht nur ein waches Gewissen, sondern auch ein stabiles Selbstbewusstsein. So stelle ich mir die beiden Hebammen vor: als resolute, lebenserfahrene Frauen, die schon lange begriffen haben, dass es sich nicht empfiehlt, die Männer allzu ernst zu nehmen, selbst wenn sie von Beruf Pharao sind. Auf diesen Gedanken hat mich allerdings ein Mann gebracht – Lothar Kreyssig, von dem ich glaube, dass er ein ebenso leidenschaftlicher wie höchst selbstbewusster Mann war. Begeistert ursprünglich fürs Militär, Mitglied einer schlagenden Verbindung mit Sympathie auch für den Nationalsozialismus. Allerdings – als er anfing, die Bibel zu lesen, hat ihn Christus noch mehr begeistert. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebte er schon als dämonische Verkehrung all dessen, woran er doch geglaubt hatte. Den Führerkult machte er nicht mit, schützte die politischen Gefangenen, soweit er konnte – bekam als Richter in Chemnitz immer mehr Schwierigkeiten, wurde schließlich Landwirt auf einem heruntergekommenen Gut in Brandenburg. Weil er mit seiner Familie von dem Ertrag zunächst nicht leben konnte, übernahm er eine Stelle als Vormundschaftsrichter.
Im Herbst 1939 hatten – unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die sogenannten Euthanasie-Morde begonnen. Man experimentierte mit dem Gas, das später in den Vernichtungslagern zum Einsatz kam. Wenige Monate später bekam Kreyssig die Akten auf den Tisch, die undurchschaubare Verlegungen und bald darauf erfolgte Todesfälle seiner Mündel belegten. Obwohl dafür immer irgendwelche Erkrankungen angegeben waren, zweifelte Kreyssig nicht, dass es sich um geplante Tötungen handelte. In einem Schreiben an den Reichsjustizminister legte er dar, dass er die Theorie vom ‚lebensunwerten Leben‘ für gotteslästerndes Unrecht halte, fragte aber auch nach der staatlichen Rechtsgrundlage für die Tötungen. Es stellte sich heraus, dass es eine Rechtsgrundlage gar nicht gab. Die Morde waren in der Reichskanzlei beschlossen worden. Kreyssig stellte daraufhin eine Anzeige wegen Mordes gegen den Führer der Reichskanzlei. Zugleich untersagte er den Einrichtungen, für die er zuständig war, seine Mündel zu verlegen. Damit war er der einzige von 1 400 Vormundschaftsrichtern in Deutschland. Man bedrängte ihn, die Weisung zurückzunehmen, was er nicht tat. Grund genug wäre das gewesen, ihn als Staatsfeind zu eliminieren. Aber er blieb verschont – man versetzte ihn nur in den Ruhestand. Kreyssig wusste: Er verdankte das verschiedenen Leuten im Justizapparat, die wohl mit ihm sympathisierten. Er hatte mit seiner unbeirrbaren Haltung auch Bewunderung erregt.
Unbeirrt an seiner Seite all die Jahre, in denen er für die Bekennende Kirche herumreiste, sich für die Verfolgten einsetzte und kaum Rücksicht auf die Familie nahm – unbeirrt an seiner Seite auch seine Frau Johanna. Die vier Söhne zu bändigen hatte und es zugleich fertigbrachte, den bunten Haufen aus Arbeitern, Kriegsgefangenen und Flüchtlingen, die sich auf dem Gut in Hohenferchesar einfanden, zusammenzuhalten und zu ernähren – auch ohne Lebensmittelkarten. Und die gewiss großen Anteil daran hatte, dass mitten unter ihnen auch zwei Jüdinnen unentdeckt blieben – Gertrud Prochownik und Edith Behr. Gertrud Prochownik schrieb nach dem Krieg an das Ehepaar Kreyssig:
„Ich habe in diesen Monaten erfahren, dass niemand ungehört an Ihre Tür klopfte, dass Sie immer in gleicher Hilfsbereitschaft die in Not geratenen Menschen in Ihr Haus nahmen … so erlebte ich in Ihrem Haus täglich die lebendige Teilnahme offener Herzen und weiß nun, dass die große, alles umfassende Nächstenliebe nicht im Bombenhagel starb ...“
Freilich – Lothar Kreyssig vergaß auch den einen Juden nie, dem er Rettung versprochen hatte und den er dann doch im Stich ließ. Er nahm sich auch nicht aus vom Versagen der deutschen Justiz. Er erklärte: „Die Richter von damals sind schuldiger als andere, weil sie in ihrer Gesamtheit das Recht hätten besser vertreten müssen.“ Und in einem Brief sprach er von der „Schuld endloser Unterlassungssünden“. Auch er – das wusste er – hatte Manches unterlassen. Eine Frage, die bleibt: Wo fängt die Unterlassungssünde an?
„Was, Mama, dein Opa war ein Nazi?“ – der Schock und das Entsetzen stehen meiner Tochter ins Gesicht geschrieben. Ich muss tief einatmen.
Wir sind umgezogen und wohnen nun direkt neben der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze in Berlin. Meine Tochter liebt es, mit dem Fahrrad über die Markierung des Mauerstreifens zu fahren. Sie sagt dann immer ganz zufrieden: „Früher ging das nicht“.
Ich erzähle ihr von der Flucht ihrer Urgroßeltern vom Osten über Westberlin in die Bundesrepublik. Sie fragt, warum sie geflohen sind. Ich habe die Begründung meiner Omi auf den Lippen: „Wir wollten in dem freieren, dem besseren politischen System leben. Eine Zukunft für unsere Kinder haben.“ Ich muss schlucken. Ich weiß, das ist, wenn überhaupt, nur ein Zipfel der Wahrheit.
Mein Opa hatte wegen seiner Nazivergangenheit in der DDR keine Chance als Professor für Französische Literatur an der Uni zu arbeiten. Er hat seine Netzwerke genutzt. Im Westen konnte er bis zu seiner Pensionierung als Akademischer Rat und außerplanmäßiger Professor an der Uni arbeiten und lehren.
Mein Opa war ein Nazi – nicht nur ein kleiner, sondern ein überzeugter, nicht nur ein Mitläufer, sondern ein Täter. Wahrscheinlich bis zu seinem Tod Ende der 70ger Jahre. Er war bei der SA und später bei der SS, ist in Abwesenheit mehrfach zu Tode verurteilt worden und hat sein ganzes Leben darüber geschwiegen, seine Kriegstagebücher hat er verbrannt. Meine Omi hat das Schweigen mit Familienlegenden untermauert.
Die Geschichte hat gewirkt: Eines der vier Kinder hat versucht aufzuarbeiten, ist in Archive gefahren. Gegen das Schweigen, um das Schweigen zu beenden. Aber auch das hatte Kosten: Die Geschwister haben sich gestritten.
Ich hätte so gerne, einen Verwandten, nur einen, der Jüd:innen versteckt hat; nur eine, die sich für Menschen mit Behinderung eingesetzt hat; nur einen Rockzipfel, an dem ich mich festhalten kann, dass irgendjemand nicht überzeugt mitgemacht hat. Ich trage eine Sehnsucht nach einer Hebammengeschichte in meiner Familie mit mir. Aber ich kann keine erfinden.
Ich atme tief aus und schaue meiner Tochter fest in die Augen: „Ja. Mein Opa war ein Nazi.“
Amen.