Pfr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs

„Man soll ein weiches Herz haben und einen harten Geist.“ Ein Satz wie aus der Bibel! Du spürst mit diesem Herzen die Schönheit des Schönen, empfindest Musik und lässt dich berühren von der Natur. Und du bist aufmerksam und siehst immer besser, was los ist, was nicht in Ordnung ist, was gar nicht geht. Ein weiches Herz, ein harter Geist. Du hast beides gehabt. Erfüllung und Sinn hat es dir gebracht, aber kein Glück. Deine Freund/innen und auch andere haben dich erlebt, wie du mit großer Begeisterung mitmachtest, bis zum Umfallen. Aber als es dann auf Messers Schneide stand, bist du nicht umgefallen, sondern hast dich bekannt. Dein weiches Herz hat dich stark gemacht. Und der harte Geist hat dich entschieden gemacht, unbeugsam. „Man soll ein weiches Herz haben und einen harten Geist.“ Ein Satz wie aus der Bibel! Und doch ist er woanders her, ein Zitat vom französischen Philosophen Jacques Maritain: l´esprit dur et le coeur doux. Das hast du oft zitiert, Sophie, um Mut zu machen. Heute vor einhundert Jahren wurde Sophie Scholl geboren. Und vor 78 Jahren gemeinsam mit ihrem Bruder Hans, ihrem Freund Fritz Hartriegel und weiteren Freunden hingerichtet, weil sie an der Universität München Flugblätter gegen den Krieg und die Ermordung der Juden verteilt hatten. „Man muss ein weiches Herz haben und einen harten Geist.“

Ich hätte auch beides gerne. Und lese – nun doch in der Bibel – von einem, der ein weiches Herz hatte und einen harten Geist. Und der von beidem zum Gebet bewegt wurde:

1 Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus dem Stamm der Meder, der über das Reich der Chaldäer König wurde, 2 in diesem ersten Jahr seiner Herrschaft verstand ich, Daniel, in den Büchern die Zahl der Jahre, die sich an Jerusalem erfüllen sollte. So war das Wort des HERRN an den Propheten Jeremia ergangen: Siebzig Jahre soll Jerusalem wüst liegen. 3 Und ich kehrte mich zu Gott, dem Herrn, um zu beten und zu flehen unter Fasten und in Sack und Asche.

Nachdem er in einem Buch etwas gelesen hat und verstanden hat, was ihm bisher ein Rätsel war, weil es so furchtbar war – betet Daniel. In seiner Bibel war ihm ein Wort und eine Zahl aufgegangen, die ihm die bedrückende Gegenwart aufschloss. Wer betet, zeigt sich als wacher Zeitgenosse. Mich erinnert das an das „Politische Nachtgebet“, das die streitbare Theologin Dorothee Sölle im Köln der 1960er Jahre entwickelt hat und das in meiner Jugend viele engagierte Gottesdienste prägte. Das Gebet wurde in einen geistlichen Dreischritt eingebunden: Information, Meditation, Aktion. Das klingt gehörig nach dem revolutionären Geist von 1968, hat uns damals sehr eingeleuchtet – und hat uns wohl auch über manche Skepsis gegenüber dem Beten hinweggeholfen. Uns unruhigen Jugendlichen war damals am Glauben wichtig, dass er ganz an der Welt ausgerichtet ist, an ihrer Ungerechtigkeit, ihrem Unfrieden. Wer sich da vor allem auf Gott ausrichtete im Gebet, war uns verdächtig. Aber mit „Information, Meditation, Aktion“ konnte beides zusammengehalten werden: Gott und die Welt. Und die Not der Welt war vor vierzig Jahren in vielem wie heute. Und wenn du dir das Elend der vielen und die Skrupellosigkeit der Profiteure ansiehst, die ungerechte Verteilung von Geld, Bildung, Gesundheit und Lebenschancen, die Verletzungen von Kinderseelen und die Verheerungen in der Natur, und unendlich mehr noch, wenn du das am eigenem Leibe erleben musst, dann hat dein Gebet wie bei Daniel einen Ton: du flehst. Wenn da nichts mehr ist, woran wir anknüpfen können, worauf wir hinweisen können, dann flehen wir. Spüren wir dann, dass wir nicht ins Leere flehen und fallen, sondern gerade im Flehen auf den Einen ausgerichtet sind?  Passend zum Flehen betet Daniel in „Sack und Asche“. Vor Gott bist du in Sack und Asche nicht underdressed.

4 Ich betete aber zu dem HERRN, meinem Gott, und bekannte und sprach: Ach, Herr, du großer und schrecklicher Gott, der du Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! 5 Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen.

Wie können wir mit dem Beten beginnen, wie ins Beten kommen? Daniels Beten beginnt mit einem Seufzer: „Ach!“ Und ich frage mich, wieviel Gebet umgekehrt in jedem Seufzer steckt: „Ach!“ Wer betet, muss nicht gleich Worte finden. Gott hört uns schon vor unseren Worten. Unseren Konfirmand/innen würde ich es so sagen: Hätte Gott ein Handy, sein Klingelton wäre ein Seufzer.

Und dann sprechen wir Daniels Gott an. Denn wer betet, weiß ja schon etwas von Gott, und ruft sich das ins Bewusstsein, um sich nicht zu sehr zu wundern über die eigene Verwegenheit, mit Gott zu reden. Denke daran, was du gehört hast über Gottes Bund und seine Gnade – und du findest Mut zum Gebet.

Den brauchen wir wohl, denn es kann schmerzlich und peinlich werden wie bei Daniel: In seinem Gebet bekennt er seine Sünden. Er weiß: Gebet ist eine gute Gelegenheit, um das eigene Verhalten zu verstehen, zu benennen, zu bewerten und einmal zutiefst ehrlich zu sein. Im Gebet können wir uns einmal die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit leisten. Gebet ist die höchste Form der Wahrhaftigkeit (wenn es das nicht ist, ist es kein Gebet), auch weil Scham uns hier nicht stumm macht. So ehrlich wie im Gebet sind wir nicht einmal beim Psychotherapeuten. Betend sprechen wir uns aus und gewinnen versuchsweise Distanz zu uns, Gebetsmillimeter um Gebetsmillimeter Freiheit von uns.

Ich habe wie Daniel gerade immer in der ersten Person Mehrzahl gesprochen: „wir“. Daniel betet auch mit „wir“, er bekennt „unsere“ Sünden, dabei ist gerade er einer der wenigen, die Gottes Gebot ernst nehmen. Sein Gebet ist ein Akt der Solidarität der Sünder. Im Gebet verschränken wir unsere Finger, wie zum Zeichen für die Schuldverflochtenheit, und zeigen nicht mit dem Finger auf andere, auf die böse oder blöde Regierung usw.

Wenn wir in der Kirche beten, tun wir das auch stellvertretend für die, die nicht beten (noch nicht, nicht mehr). Und wir hoffen, dass wir damit auch andere ermutigen, es einmal mit dem Gebet zu versuchen.

16 Ach, Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter tragen Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen. 17 Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr! 18 Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. 19 Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk sind nach deinem Namen genannt.

Der Dreh- und Angelpunkt von Daniels Gebet ist Gott: Alles, worum er bittet, möge „um Gottes Willen“ geschehen. Dass Gott sein „Angesicht leuchten“ lässt über dem zerstörten Tempel, dass er segnet, was wir noch wieder aufbauen müssen, dass wir Gottes Gegenwart spüren können, mit unseren Gebeten zu ihm kommen können, dass er unsere Dunkelheiten hell macht, Glanz bringt in das, was bei uns stumpf und matt aussieht – das alles nicht, weil wir so prächtige Typen wären und es verdienten oder es so bedauerlich nötig hätten, sondern: Gott, dein Name ist doch über unser Leben genannt, über unsere Häuser und über unsere Stadt, über deine Kirche. Und Gottes Name, seine Liebe, seine Barmherzigkeit, sein Gebot sollen da weiter ausgesprochen werden. Und Glanz und Gerechtigkeit werden sein.

Weil Daniel und wir im Gebet ganz und gar Gottes Barmherzigkeit in den Blick nehmen, sehen wir von eigener Gerechtigkeit ab und von allem, was wir vorzeigen könnten. Eines ist Betern unmöglich: Du kannst nicht stolz beten. Daniel legt sich denn auch zum Gebet flach auf den Boden.

Und Sophie Scholl betet in ihrem Tagebuch:

„Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln zu Dir. Nichts anderes kann ich, als Dir mein Herz hinhalten, das tausend Wünsche von Dir wegziehen. Da ich so schwach bin, dass ich freiwillig nicht Dir zugekehrt bleiben kann, so zerstöre mir, was mich von Dir wendet, und reiß mich mit Gewalt zu Dir. Denn ich weiß, dass ich nur bei Dir glücklich bin … bleibe bei mir, o, wenn ich einmal Vater sagen könnte zu Dir. Doch kann ich Dich kaum mit „Du“ anreden. Ich tue es, in ein großes Unbekanntes hinein, ich weiß ja, dass du mich annehmen willst, wenn ich aufrichtig bin, und mich hören wirst, wenn ich mich an dich klammere.“ (Tagebuch, 29.6.1942)

Amen.