Kommen alle in den Himmel?
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Predigt im Rahmen der Predigtreiche "Versöhnung" in der Kaiser-Wilhem-Gedächtnis-Kirche, Berlin

Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. (Gen 1,31)

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:

6Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, 7sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.

8Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.

9Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, 10dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, 11und alle Zungen bekennen sollen,

dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2)

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. (Offb 21,2-4)

 

Sie sitzt im Schatten eines Baumes und lächelt zufrieden aus. Eine Allee von Bäumen zieht sich den Fluss entlang, der mitten durch die Stadt fließt. An den Bäumen hängen reife Früchte. Ein anderer wartet an einem der prächtigen Tore dieser Stadt auf die, die kommen. Denn er weiß: Es werden noch viele kommen, viele, die er kennt, und auch viele, die er nicht kennt. Eine setze ich mit weißen Kleidern vor ein Zelt. Einem anderen gebe ich die Flügel der Morgenröte und sehe ihn am äußersten Meer, denn auch dort wird Gottes Hand ihn führen und seine Rechte ihn halten.

An den Gräbern, liebe Gemeinde, werde ich poetisch und kühn. Ohne mit der Wimper zu zucken versetze ich die Toten in den Himmel. Ich erzähle ihre Geschichte, das Schöne und das Schlimme ihres Lebens, seine Herrlichkeiten und sein Elend, und dann versetze ich sie in den Himmel. Denn jede Geschichte braucht ein gutes Ende. Ich prüfe nicht ihre Eignung und frage nicht danach, ob sie es denn verdient haben. Ohne mich zu versprechen, verspreche ich ihnen den Himmel und rede sie munter hinein. Oft entdecke ich sie im himmlischen Jerusalem, das am Ende der Bibel beschrieben wird. Da gibt es fast für jeden einen Platz, an dem er sich wiederfinden kann.

Es gibt viele schöne Orte in dem dicken Bibelbuch. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. (Joh 14,1) Aber darf jeder dort einziehen?

Jedes Mal frage ich mich das, wenn ich mir die Worte für eine Trauerfeier zurechtlege. Darf ich mir aus dem dicken Bibelbuch einen Ort aussuchen, von dem ich denke: Da passt der hin, da soll er bleiben? Und dann denk ich an Karl Barth und werde kühn.

Kommen denn alle in den Himmel? So fragen die Kinder. Dieser Frage ist heute nachzugehen. Die Erwachsenen reden von der Allversöhnung und die Theologen verzeichnen die Sache unter dem Lehrbuchpunkt apokatastasis panton, von der Wiederherstellung aller. Aber die Fragen der Kinder sind die besten, weil sie die ehrlichsten und direktesten sind. Kommen denn alle in den Himmel? – Ja, alle! - Auch die Queen? – Ja, natürlich, warum denn nicht! Auch der Mohammed Atta, der das Flugzeug vor 21 Jahren in das Hochhaus geflogen hat?  - Der? Warum denn der?

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Die Bibel, liebe Gemeinde, ist ein dickes Buch. Selten gibt sie auf einfache Fragen einfache Antworten. Und das ist auch gut so, denn das Leben ist ja auch alles andere als einfach. Auch in der Frage, ob alle in den Himmel kommen, gibt sie keine eindeutige Antwort. Dennoch stellen Menschen einfache Fragen. Sie suchen nach Orientierung. Theologie ist der Versuch, die einfachen Fragen aus der Bibel zu beantworten. So entstehen aus dem dicken Bibelbuch dünnere Theologiebücher. Manchmal aber auch noch dickere Theologiebücher. So bei Karl Barth, dem großen Schweizer Theologen des 20. Jhs. Sein Versuch, die einfachen Fragen aus dem dicken Bibelbuch zu beantworten, heißt „Kirchliche Dogmatik“ und ist ein noch viel dickeres Buch als die Bibel, 9300 Seiten in 13 Bänden.

Karl Barth macht aus der Großerzählung der Bibel eine noch größere Erzählung, eine Hintergrundsgroßerzählung, eine Mega-Metaerzählung. Durch sie wandert er in einer unendlich langsamen, unendlich gründlich und detailleverliebten Bewegung, verliert sich in exegetischen oder theologiegeschichtlichen Exkursen, die den Umfang kleiner Bücher haben, um dann aufzutauchen und den roten Faden, den die Lesenden längst verloren haben, wieder aufzugreifen und einen kleinen Schritt weiterzugehen in seiner riesigen Erzählung.

Karl Barths Megaerzählung „Kirchliche Dogmatik“ erzählt von einem Gott, der nicht ohne die Menschen sein will. Es nie wollte! Von Anfang an hat er sich den Menschen erwählt, um zu sich selbst kommen zu können. Der Mensch ist gewissermaßen in Gott angelegt. Jesus Christus ist als Mensch die Seinsweise Gottes, in der der Mensch von Anfang an in Gott war und in Gott hineingeholt wird. Schon bevor der Mensch geschaffen wurde, lebt Gott innergöttlich in Beziehung zum Menschen.

Gott wollte nie ohne Beziehung zu den Menschen sein. Aber die Menschen wollten ohne Gott sein, meinten, ohne Beziehung zu Gott leben zu können.

Was die Tradition mit Sünde bezeichnet, ist für Karl Barth eine Beziehungsstörung. Eine schwerwiegende, doch eine, die Gott zu beheben weiß.

Gute Erzählungen helfen uns im Leben und im Sterben. Gute Erzählungen trösten. Sie tun das aber nur, wenn sie einerseits den Ernst des Lebens, seine Tragik und sein Elend, weder verschweigen noch überspielen, sich andererseits davon aber auch nicht bis zum Ende bestimmen lassen.

Gott wird sich die Erwählung des Menschen zu seinem Partner durch die Sünde nicht verderben lassen. Er wird die Beziehungsstörung beheben, aber nicht durch Verschweigen und Verdrängen.

Doch statt die Menschen für ihre Treulosigkeit zu bestrafen, ist er ihnen gnädig. Er bringt ihre Treulosigkeit zur Sprache, verurteilt sie, nimmt das Urteil aber auf sich selber, und spricht den Menschen frei. Das Urteil, das die Menschen treffen müsste, trifft Jesus Christus. Da Jesus Christus Gott selbst ist, ist der Richter zugleich der Verurteilte – alles, damit der Mensch freikommt.

Oder das Ganze in der Diktion Karl Barths: „Die Gnadenwahl ist der ewige Anfang aller Wege und Werke Gottes in Jesus Christus, in welchem Gott in freier Gnade sich selbst für den sündigen Menschen und den sündigen Menschen für sich bestimmt und also die Verwerfung des Menschen mit allen ihren Folgen auf sich selber nimmt und den Menschen erwählt zur Teilnahme an seiner eigenen Herrlichkeit“ (KD II,2,101, zit nach Frisch 90f)

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Band 4 der Kirchlichen Dogmatik ist die sog. Versöhnungslehre. In drei Teilbänden mit je ca. 1000 Seiten geht Barth mit Gott einen Weg, der zuerst hinabführt in die Erniedrigung, um den untreuen Menschen am Kreuz zu treffen, ihn von seiner Schuld zu lösen und zu rechtfertigen, dann hinaufführt, um den freigesprochenen Menschen hinauf in die Herrlichkeit zu führen und zu heiligen, und drittens, um diesen Weg Gottes in die Tiefe und mit dem Menschen in die Höhe zu bezeugen. Dieser dritte Punkt, die Bezeugung, ist eine Besonderheit bei Barth. Es gibt einerseits dieses Erlösungsdrama zwischen Gott und Jesus Christus, das die Menschen befreit, und es gibt andererseits das Wissen um diese Tat. Da geschieht einerseits etwas ganz Großes, das uns Menschen betrifft, und andererseits müssen es die Menschen auch zur Kenntnis nehmen. Aber dieses Zur Kenntnisnehmen, das darum Wissen, der Glaube also, ist keineswegs die Voraussetzung dafür, dass es geschieht, dass es Wirklichkeit wird. Gottes Wunsch, nur mit den Menschen zusammen zu leben, macht er nicht abhängig davon, ob die Menschen das auch erkennen und annehmen. Dieser Wunsch gilt und wird Wirklichkeit – ob die Menschen es nun glauben oder nicht.

Dass Gott sich durch und in Jesus Christus mit den treulosen Menschen versöhnt hat, das gilt. Weil Gott mit dem Menschen an sich sein will, hat er sich in Jesus Christus mit dem Menschen versöhnt, also mit allen Menschen, nicht nur mit einem bestimmten Teil, auch nicht nur mit dem Teil der glaubt und sich zu Christus bekennt.

Der Glaube ist nicht das, was die Versöhnung bewirkt, also wahrmacht. Der Glaube ist nur das, was die Versöhnung wahrnimmt und sie dann auch verwirklicht. Der Beitrag des Glaubens lässt am besten mit dem engl. Wort to realize in seinem Doppelsinn charakterisieren: wahrnehmen und verwirklichen. Der Glaube nimmt das Glück wahr, von Gott erwählt und mit Gott versöhnt zu sein, und verwirklicht es dann auch für das Leben der Glaubenden, seine Mitmenschen und die Welt. Der Glaube nimmt wahr und realisiert es für sich selber. Und der Unglaube merkt nichts von seinem Glück. Aber der Unglaube macht Gottes Erwählung und Versöhnung nicht ungültig.

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Was ist also nun, fragt das ungeduldige Kind in uns, und auf das muss man hören. Was ist nun: Kommen alle in den Himmel oder nicht? Karl Barth: Sag Ja!

Aber Karl Barth schweigt. Er ist ja längst tot. Und in seiner Mega-Metaerzählung zur Bibel, in seiner Kirchlichen Dogmatik, steht auch kein eindeutiges Ja. Die Kirchliche Dogmatik ist unvollendet. Karl Barth ist gestorben, bevor er seine große Erzählung zu Ende erzählen konnte. Hätte er, wenn er noch länger gelebt hätte, am Ende ist Allversöhnung gelehrt, die apokatastasis panton, diese immer umstrittene, von der offiziellen Kirchentheologie immer verworfene, aber von großen Theologen immer wieder gewagte Lehre von der Allversöhnung? Jedenfalls liegt diese Lehre ganz auf der Linie des Weges, den er in den vielen Bänden seiner großen Erzählung gegangen ist. Die Allversöhnung wäre das zu erwartende große Ziel.

Und doch! Alle kommen in den Himmel? - kann man das mit letzter Gewissheit sagen? Kann man so etwas lehren?

Das Leben ist noch nicht zu Ende. Die Welt ist noch nicht an ihrem Ziel. Es gibt noch diese Störungen in den Beziehungen, nicht nur die zwischen Gott und den Menschen, die Gott für überwunden erklärt hat, sondern auch die zwischen den Menschen. Es gib noch die Unversöhntheit zwischen Menschen. Wir können derzeit keinen Himmel malen, in dem die Täter und ihre Opfer unausgesöhnt Tür an Tür in Gottes Wohnungen wohnen. Es gibt Opfer, für die die Behauptung: Alle kommen in den Himmel, auch die Täter, die sie zu Opfern gemacht haben, unerträglich wäre. Das muss bedacht werden.

Vielleicht also hätte Karl Barth nicht die Allversöhnung gelehrt, wenn er seine Mega-Metaerzählung Kirchliche Dogmatik zu Ende hätte schreiben können, obwohl das eigentlich nach allem zu erwarten gewesen wäre. Aber eines hat er eben auch nie gesagt: Dass nur die Christen in den Himmel kommen oder nur die Getauften oder nur die, die an Jesus Christus glauben und sich zu ihm bekennen.

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Liebe Gemeinde, es kommt darauf an, dass die Geschichten gut sind. Dass ihr Anfang gut ist und dass ihr Ende gut ist. Und dass sie in der Mitte die Dramen des Lebens nicht verschweigen.

Die Bibel, das dicke Buch Gottes, ist eine solche gute Erzählung. Die Kirchliche Dogmatik Karl Barths ist auch eine solche gute Erzählung. Noch dicker als die Bibel (aber nicht besser!)

Kommen denn nun alle in den Himmel? Letzte Klarheit über das Ende hat man erst, wenn das Ende da war. Aber die Erzählung über den Anfang, das Ende und das Dazwischen sind so gut, dass ich mich legitimiert sehe, diejenigen, über die ich als Pfarrer an den Gräbern abschließende Worte sagen darf, ungeprüft in den Himmel zu versetzen. Christus ist für alle gestorben, für die, die es glaubten, und auch für die, die es nicht glauben konnten.

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So sitzen sie im Schatten dieser immer Frucht bringenden Bäumen im himmlischen Jerusalem oder warten an einem der prächtigen Tore dieser Stadt auf die, die kommen oder nehmen die Flügel der Morgenröte und bleiben am äußersten Meer, denn auch dort wird Gottes Hand sie führen und seine Rechte sie halten. Und die Queen streift mit Kopftuch über kahle Hügel und denkt:

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. (Jes 54,10)

In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. (Joh 14,1)

Und er wird bei ihnen wohnen, … und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. (Gen 1,31)

Mehr konnte auch Karl Barth in zehntausend Seiten im Grunde nicht sagen. Amen.

 

Fürbitten

Gott, gut hast du alles gemacht, sehr gut. Gut am Anfang und wirst es gut machen am Ende. Willst nicht ohne uns sein und wirst nicht ohne uns sein. Wolltest uns von Anfang an bei dir haben und wirst uns am Ende wieder bei dir haben. Dafür hast du gesorgt. Das erkennen wir, wenn wir Jesus im Blick haben, und danken es dir.

Ruf uns aus dem Tod. Ruf uns alle aus dem Tod. Ruf die Lebenden aus dem toten Leben und ruf die Toten ins Leben bei dir.

Ruf leise die, die dich gerne hören, und ruf laut auch die, die dich sonst nie hören.

Ruf die, die gerne kommen, und ruf auch die, die nichts von dir wissen wollten.

Ruf die Guten und ruf die Bösen. Die Bösen mach gut, du kannst das.

Du hast für alle eine Wohnung in deinem Haus. Denn der Himmel ist ein großes Haus.

Da sind die Wohnungen, wo die Tränen getrocknet werden, und da sind die Wohnungen, wo die Klagen gehört werden.

Da sind die Wohnungen, wo der Ärger gestillt wird, und Wohnung, wo die Wut gedämpft wird.

Da sind die Wohnungen, wo noch versöhnt werden muss, und da sind die Wohnungen, wo noch offene Wunden heilen können.

Es gibt Wohnungen für die, die reden wollen, und Wohnungen für die, die Ruhe brauchen.

Da sind die Wohnungen für die, die noch nie geliebt haben, und die Wohnungen für die, die zu wenig gelacht haben.

Es gibt Wohnungen, wo Leben nachgeholt werden kann, und Wohnung, in denen manches klarer wird.

Und irgendwo muss es wohl auch die Wohnungen geben für die, die sich noch viel werden schämen müssen.

In deinem Haus gibt es viele Wohnungen. Und die Türen stehen offen. Das hast du alles gut gemacht, Gott. Danke dafür. Amen.