Dann zogen sie weiter vom Berg Hor auf dem Weg zum Schilfmeer, um das Land Edom zu umgehen. Auf dem Weg aber wurde das Volk ungeduldig. Und das Volk redete gegen Gott und Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Damit wir in der Wüste sterben? Denn es gibt kein Brot und kein Wasser, und es ekelt uns vor der elenden Speise. Da sandte der Herr die Sarafschlangen gegen das Volk, und sie bissen das Volk, und viel Volk aus Israel starb. Da kam das Volk zu Mose, und sie sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir gegen den Herrn und gegen dich geredet haben. Bete zum Herrn, damit er uns von den Schlangen befreit. Und Mose betete für das Volk. Und der Herr sprach zu Mose: Mache dir einen Saraf und befestige ihn an einer Stange. Und jeder, der gebissen wurde und ihn ansieht, wird am Leben bleiben. Da machte Mose eine bronzene Schlange und befestigte sie an einer Stange. Wenn nun die Schlangen jemanden gebissen hatten, so blickte er auf zu der Bronzeschlange und blieb am Leben.
Du gehst durch die Stadt, plötzlich blitzt dir etwas Goldenes entgegen. Sie heißen Stolpersteine, obwohl man nicht über sie stolpert, denn sie fügen sich plan ins Pflaster ein. Und doch unterbrechen sie deine Gedanken und deinen Gang. Durch ein goldenes Glänzen. Entweder bleibst du stehen und liest die Namen oder geht weiter und denkst: Auch hier wohnten einmal Juden, die ermordet worden sind.
Mahnmale wirken. Deutschland ist ein Land voller Mahnmale. Sie erinnern uns an unsere Sünden. An die Sünden dieses Volkes. Die Zahl der Mahnmale ist groß, denn die Zahl der Sünden ist auch groß.
Mahnmale dienen zur Heilung. Sie markieren die Orte, an denen großes Unrecht geschah. Die größten Mahnmale in unserem Land sind die KZs und das Holocaustmahnmal im Herzen der Hauptstadt. Irgendwann wird auch in Butscha ein Mahnmal aufgestellt werden und irgendwann wird ein russischer Präsident oder eine russische Präsidentin davor auf die Knie gehen. Das dient der Heilung. Wenn nicht, wird Russland nicht gesund. Dann wirkt das Gift des Wahns und des Selbstbetrugs weiter tödlich. Irgendwann werden sie in Moskau auch wieder Blumen an der Mauer der Trauer ablegen können im Gedenken an Nawalny und die anderen ermordeten Regimekritiker. Jetzt bewachen Polizisten die Mauer. Es darf nicht getrauert werden, es darf nicht gedacht werden. Nicht des Krieges, nicht des Unrechts und nicht der Toten des Unrechts.
Mahnmale wirken. Manchmal auch anders als man will. Deshalb werden einige von Zeit zu Zeit beseitigt. Estland hat die sowjetischen Heldendenkmäler entfernt. Die Zeiten, in denen man sich der Russen dankbar erinnern konnte, sind vorbei. Dafür steht die die estnische Premierministerin Kaja Kallas auf einer russischen Fahndungslist.
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Was da in der Wüste an einem Pfahl hing, diese Schlange aus Bronze, war eigentlich kein Mahnmal. Obwohl auch sie etwas mit der Sünde des Volkes zu tun hatte. Das Volk beklagte sich bei Gott und bei Mose, hatte kein Vertrauen mehr. Gott bestrafte die Ungeduld, den Vertrauensverlust mit Giftschlangen. Mit Erfolg: das Volk sah ein, dass es gesündigt hatte. Daraufhin schickte Gott die Schlangen nicht wieder weg, sondern gab ihnen ein Gegenserum, die bronzene Schlange am Pfahl. Wer sie ansah, wurde immun gegen das Schlangengift.
Irgendetwas passt da nicht recht, ist nicht so ganz stimmig. Sollten die Israeliten, nachdem ihnen Gott verziehen hat, nicht daran erinnert werden, nicht mehr zu sündigen und zu murren und sollte die Bestrafung, also die Giftschlangen, nicht verschwinden? Stattdessen werden sie durch den Blick auf die Schlange gegen die Strafe immunisiert und nicht gegen die Sünde.
Mahnmale sollen uns gegen die Sünde immunisieren und nicht gegen die Strafe. Die Stolpersteine sagen uns doch: So etwas darf nicht wieder passieren. Nie wieder dürfen wir unsere jüdischen Mitmenschen aus ihren Wohnungen zerren, sie entmenschlichen und in den Tod schicken. Sie sollten uns nicht sagen: Ihr habt eure Schuld bekannt, nun braucht ihr euch nicht mehr zu schämen. So denken ja nur die, die diese Mahnmale wegmachen wollen, weil sie sich nicht mehr schämen wollen, weil sie wieder stolz sein wollen, Deutsche zu sein. Und gerade für die ganz besonders müssen die Mahnmale bleiben. Wir sind noch nicht genug gestolpert.
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Dass die Geschichte von der ehernen Schlange irgendwie nicht stimmig ist, könnte daran liegen, dass sie eine Legende sein könnte, die darauf abzielt, einen Kultgegenstand im Jerusalemer Tempel zu entheiligen. Offenbar gab es nämlich im Tempel eine eherne Schlange als Kultgegenstand. Das erfahren wir im zweiten Königbuch, als die Rede auf König Hiskia kommt, eine der wenigen Könige, die ein positives Urteil erhalten. Weil er sich konsequent für Adonaj, den Ewigen, und für ihn allein eingesetzt hat. Wir lesen: König Hiskia hat die Kulthöhen abgeschafft und die Mazzeben zerschlagen und die Aschera zerstört und die Schlange aus Bronze, die Mose gemacht hatte, zermalmt, denn bis in jene Tage hatten die Israeliten ihr Rauchopfer dargebracht. Und man hatte sie Nechuschtan genannt. (2. Kön 18,4)
Nechuschtan war möglicherweise mehr, als bloß eine Art Arznei gegen Schlangengift. Er war vielleicht selbst eine Götterstatue, ein Schlangengott. Schlangengötter gab es in der Antike überall, besonders aus Ägypten sind sie bekannt. Der Äskulap- oder Asklepiosstab ist allen bekannt als ein Apotheken- und Medizinsymbol aus der griechischen Mythologie. Ein Zusammenhang mit der ehernen Schlange aus der Bibel lässt sich nicht belegen, aber auch nicht ausschließen.
Man vermutet, dass im Jerusalemer Tempel ursprünglich noch weitere Gottheiten verehrt wurden, nicht nur Adonaj, so wie es auch im ganzen Land Kultstätten für kanaanäische Fruchtbarkeitsgötter gab, die Mazzeben und Aschera. Die Erzählung von der ehernen Schlange im Mosebuch könnte der Versuch gewesen sein, Nechuschtan zu entheiligen, zu entgöttlichen: Es ist kein Gott, er ist nur eine Art Spezialmedikament gegen Schlangenbiss, das Gott selbst verordnet hat.
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Für uns interessant wird die eherne Schlange wieder durch eine Erwähnung im Johannesevangelium und durch eine ganz andere Bezugnahme. Da sagt Jesus: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden,5damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. (Joh 3,14f)
Das ist eine deutliche Anspielung auf die Kreuzigung, denn im Johannesevangelium wird die Kreuzigung dialektisch eine Erhöhung genannt, obwohl sie ja eigentlich eine Erniedrigung ist. Das bestätigt sich im nächsten Vers, einem bekannten und gern zitierten Satz aus dem Johannesevangelium: Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.
Das Kreuz wird hier mit der ehernen Schlange in Verbindung gebracht. Von daher verwundert es nicht, dass die eherne Schlange in der christlichen Kunst nicht an einer schlichten Stange hängt, sondern an einem Kreuz, oft einem Kreuz in T-Form.
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Die eherne Schlange und das Kreuz - Mahnmale und Kultgegenstände.
Seltsam, wie sich die Dinge wiederholen.
Es gibt diese Erzählung von der ehernen Schlange. Sie erzählt – wenn auch nicht bis in jedes Detail stimmig – davon, dass die Israeliten ihr Vertrauen zu ihrem Gott verloren und gegen ihn aufbegehrt haben, dass sie sich besonnen und um Verzeihung gebeten haben und hinfort von Strafe verschont blieben. Der Blick auf die eherne Schlange erinnert sie an ihre Schuld und Gottes Vergebung.
Und es gibt Nechuschtan im Tempel, ein Schlangengott, der einem - ich weiß nicht was verheißt, vielleicht Gesundheit und Heilung, wenn man ihn darum bittet, ihn anbetet und ihm opfert.
Dann es gibt die Erzählung von Christus, der am Kreuz starb. Sie erzählt davon, dass Menschen ihr Vertrauen zum Gott Israels verloren und gegen ihn aufbegehrt haben, dass Gott ihnen aber verziehen und sich mit ihnen versöhnt hat, in dem er die Schuld und Strafe sichtbar auf den einen, auf Jesus Christus gelegt hat. Der Blick auf das Kreuz soll sie, also uns an unsere Schuld und Gottes Versöhnung erinnern.
Und dann wurde das Kreuz aus den Passionserzählungen der Evangelien zum Kultgegenstand in den Kirchen. Man betet vor dem Kruzifix und bittet um - ich weiß nicht was, vielleicht Gesundheit und Heilung oder Geld und Erfolg. Manche hängen es sich um den Hals und meinen, das bewahre sie im Straßenverkehr, andere tätowieren es sich auf die Brust und denken, es verschone sie vor dem Infarkt oder helfe ihnen bei der Liebe.
Aber das ewige Leben hat nicht, wer sich ein Kreuz ins Zimmer oder um den Hals hängt; sondern das ewige Leben hat, wer glaubt, dass Gott die Welt mit sich versöhnt habe. Dann es heißt nicht: … damit alle, die aufs Kreuz gucken, das ewige Leben haben. Sondern es heißt: „… damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“.
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Die eherne Schlange und das Kreuz - Mahnmale und Kultgegenstände. Vom Mahnmal der Sünde zum Kultgegenstand der Anbetung. Seltsam, wie sich die Dinge wiederholen.
So wie Hiskia den Nechuschtan, die eherne Schlange aus dem Tempel entfernen und zermalmen ließ, damit ihm dort keine Rauchopfer mehr dargebracht werden, so haben auch die Hugenotten die Kreuze aus ihren Tempel entfernt, damit vor ihnen nicht mehr Priester mit Weihrauch um dies und jenes bitten, denn nicht das Kreuz soll angebetet werden, nicht der Gekreuzigte, sondern Gott, der Ewige und Vater Jesu Christi, der uns unsere Sünden vergeben und sich mit uns versöhnt hat. Daran sollen wir erinnert werden, wenn wir auf das Kreuz blicken. Das Kreuz soll ein Mahnmal bleiben und kein Kultgegenstand werden.
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Die eherne Schlange und Kreuz – Mahnmale der Schuld, Gedenkstätten der Vergebung, Ausrufezeichen zum Glauben, Hoffnungsmarken des Lebens.
Immer wieder müssen wir darüber stolpern. Denn wir vergessen so schnell, dass wir leben, weil Gott uns gnädig ist. Und das sollten wir nie vergessen!
Wenn ihr ein Kreuz seht, dann stolpert zumindest in Gedanken und erinnert euch: Wir werden nicht durch unsere Schuld an den Tod verloren gehen, sondern wir werden leben. Aus Gottes Liebe heraus. Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er den einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.
Amen.
Gebet:
Ewiger und Allmächtiger, du gnädiger und liebender Gott!
Zwei Jahre nun bitten wir dich um Frieden für die Ukraine und auch für Russland. Jeden Sonntag und fast jeden Werktag. Hörst du nicht unsere Bitten? Hörst du nicht die Bitten der Soldaten in den Gräben? Hörst du nicht die Klagen der Mütter an den Gräbern? Willst du etwa keinen Frieden? Hast du andere Pläne?
Das fragen wir dich heute, nach zwei Jahren schrecklichen Kriegs. Und wir ahnen, dass wir auch heute keine Antwort kriegen. Kannst du uns wenigstens sagen, wie lange noch? Nur eines wissen wir heute schon: Siegen wird am Ende nur einer: der Tod.
Zwei Jahre hofften wir, du wüsstest, wie Frieden geht, Frieden mit Freiheit für die Menschen, die in Freiheit leben wollen und nicht unter russischer Herrschaft. Frieden auch für alle Russen, die diesen Krieg nicht wollen. Wer will schon Krieg? Wer, außer diesem einen zynischen und einsamen Mann in seinem Kreml?
Zwei Jahre hofften wir, du wüsstest es. Weißt du es etwa nicht? Darf ich dir einen Vorschlag machen? Setz ihn endlich ab! Du weißt doch, wie das geht. Und du wirst es anständiger machen als er mit seinen Gegnern. Bring ihn doch endlich vor dein Gericht. Damit Friede werde.
Zeige dich! Zeige, dass du Herr über die Geschichte bist und nicht Herr Putin. Dass du regierst und dabei nicht über Leichen gehst. Es wird Zeit Gott, nach zwei Jahren, es wird Zeit, erbarme dich, mach Frieden, Gott!
Und vergiss dabei Israel nicht und den Gazastreifen. Lass es dort nicht auch zwei Jahre werden, wir bitten dich. Amen.