Rückblicksmenschen und Vorschaumenschen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Da sprach Mose: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Er aber sprach: Ich selbst werde meine ganze Güte an dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach: Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn ein Mensch kann mich nicht sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der Herr: Sieh, da ist ein Platz bei mir, stelle dich da auf den Felsen. Wenn nun meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in den Felsspalt stellen und meine Hand über dich halten, solange ich vorüberziehe. Dann werde ich meine Hand wegziehen, und du wirst hinter mir her sehen. Mein Angesicht aber wird nicht zu sehen sein. (2. Mose 33,18-23)

 

Liebe Brüder und Schwestern, auch ich bin, als ich zu euch kam, nicht mit großartigen Worten und abgründiger Weisheit dahergekommen, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen.

Denn ich hatte beschlossen, bei euch nichts anderes zu wissen außer das eine: Jesus Christus, und zwar den Gekreuzigten.

Auch kam ich in Schwachheit und mit Furcht und Zittern zu euch, und meine Rede und meine Verkündigung baute nicht auf kluge Überredungskunst, sondern auf den Erweis des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht in der Weisheit der Menschen, sondern in der Kraft Gottes gründe.

Von Weisheit aber reden wir im Kreis der Vollkommenen - jedoch nicht von der Weisheit dieser Weltzeit noch der Herrscher dieser Weltzeit, die zunichte werden.

Wir reden vielmehr von der Weisheit Gottes, der verborgenen, so wie man von einem Geheimnis redet; diese hat Gott vor aller Zeit zu unserer Verherrlichung bestimmt. Sie hat keiner der Herrscher dieser Weltzeit je erkannt, denn hätten sie sie erkannt, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.

Vielmehr verkündigen wir, wie geschrieben steht,

was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat

und was in keines Menschen Herz aufgestiegen ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.

Uns aber hat es Gott offenbart durch den Geist; der Geist nämlich ergründet alles, auch die Tiefen Gottes. (1. Kor 2,1-10)

 

An was denkst du, wenn du abends im Bett liegst, bevor du einschläfst? Denkst du an das, was heute war oder denkst du an das, was morgen sein wird?

Ich denke nie an das, was heute war. Ich denke immer an morgen. Und übermorgen und die ganze Woche. Ich habe meine Wochentermine immer im Blick. Auch ohne Kalender. Im Kopf. Ich plane immerzu, was ich morgen und was ich übermorgen machen muss. Ich denke nie an das, was vergangen ist. Was vergangen ist, ist abgehakt. Ich bin ein Vorschaumensch.

Es gibt auch Rückblicksmenschen. Die gehen das, was war, immer wieder durch. Habe ich alles richtiggemacht? Was war gelungen, was nicht? Die Rückblicksmenschen halten sich alles präsent, was war. Davon leben sie. Sie erinnern sich noch an alles. Sie wissen, wann sie wo waren, wann sie was warum gemacht haben. Ich weiß so etwas nie. Die Rückblicksmenschen haben ein gutes Gedächtnis, aber sie gehen oft blind auf das zu, was vor ihnen liegt. Augen zu und durch. Die Vorschaumenschen machen alles planvoll und strukturiert. Das darf ich mir zugutehalten. Aber der Preis ist hoch: Amnesie, Gedächtnisverlust. Ich habe keine Vergangenheit. Alles weg. Als sei ich heute Morgen erst zur Welt gekommen.

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Paulus war ein Rückblicksmensch.

Er schrieb Briefe und darin ist viel Rückblick. Er schrieb den Christen in Korinth einen Brief und erinnert sich selber und seine Leserinnen und Leser an das, was er gesagt hat. Nichts Großartiges, meint er, war das. Keine abgründige Weisheit, keine tiefen Geheimnisse. Nur Jesus Christus. Und zwar den gekreuzigten Jesus Christus.

Naja, ein bisschen mehr wird er schon gesagt haben, der Paulus. Aber nicht viel mehr. Schon viele haben sich gewundert, dass Paulus in all seinen Briefen zu Jesus Christus nicht viel mehr geschrieben hat, als dass er gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Nichts aus seinem Leben, keine Geschichten, keine Worte, keine Verheißungen, keine Weisungen. Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene. Das war für Paulus nicht ein Lehrer, Meister, Rabbi, sondern der Schlüssel, den Gott uns gab, um ein neues Leben aufzuschließen, ein Leben in Freiheit und ohne Sünde. Sich an Christus, den Gekreuzigte und Auferstandenen zu erinnern und diesen Schlüssel wie ein Passepartout ins Schloss jeder Tür zu stecken, die sich ihm in den Weg stellte, hat dem Paulus genügt, um zu leben und zu lieben, um zu glauben und zu hoffen. Um weiterzuziehen und neue Gemeinden zu gründen, denen er von Jesus Christus erzählte, der gekreuzigt wurde und der auferstanden ist – mehr nicht.

Paulus war ein Rückblicksmensch.

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Mose war ein Vorschaumensch.

Er hielt seine Augen auf dem Weg, der sich vor ihm zum Horizont hin spannen sollte, er dehnte seine Gedanken am Morgen bis zum Abend und am Abend bis zum nächsten Morgen und zum Tag danach und mühte sich, sie noch weiter zu werfen, wenn möglich bis hinter den Horizont, den seine älter werdenden Augen erblickten, wenn er das Gesicht vom Weg hob, so weit, dass seine gestreckten Weggedanken sich zu etwas fügen möchten, das ein Plan genannt werden kann. Einen Plan braucht doch einer, der vorangehen soll, der ein Volk aus der Unterdrückung herausführen soll. Eine klare Sicht, eine Voraussicht, eine Vision. Wohin soll’s denn gehen? Mose hatte keine Ahnung.

Er hielt seine Augen. Aber da war kein Weg. Nur Wüste, nur Steine.

Er irrte durch die Wüste mit nichts als einem Versprechen. Der Gott, der ihn gerufen hat, werde mit ihm gehen. Der Gott, der Feuer und Blitz und Wolke war, der Gott, der an hellen sonnigen Tagen nicht zu sehen war. Und in der Wüste waren fast alle Tage sonnige Tage. Kein Gott und kein Weg. Nur Sonne und Steine. Geht er noch mit? Hält er sein Versprechen? Mose will es wissen. Mose will ihn sehen. Mose will Gott sehen. Lass mich deine Herrlichkeit sehen!, bittet er Gott.

Und tatsächlich: Gott reagiert. Gott erhört die Bitte. Gott lässt sich darauf ein. Auf das unerhörte Ansinnen seines treuen Knechtes Mose. Gott stellt ihn nicht in den Senkel. Er stellt ihn in eine Felskluft. Dann werde Gott über ihm vorüberziehen, er werde ihm jedoch mit seiner Hand die Sicht auf seine Herrlichkeit verdecken. Erst wenn seine Herrlichkeit vorübergezogen ist, zieht der Herr seine Hand ab und Mose kann sehen, wie er abzieht, vorübergegangen ist. Gott gibt es nur im Nachgang zu sehen, in der Nachsicht. Mose kann ihm hinterhersehen. Aber ihn Kommen sehen, das wird dem Mose verwehrt. Es täte ihm nicht gut.

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Mose war ein Vorschaumensch. Gott wendete ihn. Gott machte ihn zu einem Rückblicksmenschen. Man sieht Gott nie kommen. Man kann Gott nur hinterhersehen. Man hat von Gott nur die Nachsicht. Das genügt. Lass dir an meiner Gnade genügen, legte Paulus, der Rückblicks-, der Nachsichtmensch, Gott in den Mund.

Als der Herr seine Hand über Mose abzog und Mose sah, dass Gott vorübergehend da war, als er so die Nachsicht Gottes erspähte, da erinnerte er sich an die geheimnisvolle Stimme aus dem Dornbusch, die sprach: Ich werde sein, der ich sein werde. Und wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig.

In jener Zeit wurde das kleine Wort „gedenke“ das wichtigste Wort des Volkes Israel. Bis heute.

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Es gibt Rückblicksmenschen und es gibt Vorschaumenschen. Paulus war ein Rückblicksmensch. Er wollte an nichts Anderes denken, als an Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Das reichte dem Paulus aus, um seine Missionswege gehen zu können.

Mose war ein Vorschaumensch. Vorschaumenschen stoßen irgendwann an ihre Grenzen – spätestens am Horizont. Gott machte den Mose zu einem Rückblickmenschen. Er bekam ein Gedächtnis. Damit konnte er weitergehen.

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Israel wurde ein Rückblicksvolk. So geht es seinen Weg durch die Jahrtausende. Es gedenkt immer noch der alten Verheißungen. Es lebt immer noch.

Die Christen sind ein Rückblicksvolk. So gehen wir unseren Weg durch die Jahrtausende. Wir erinnern uns an die alten Worte und Taten unseres Herrn Jesus Christus. Wir blicken zurück und gewinnen Trost und Hoffnung für den Weg, der vor uns liegt.

Das Markusevangelium ist ein Rückblickevangelium. Die Jünger und mit ihnen wir Leserinnen und Leser gehen mit Jesus seien Weg und verstehen nichts. Erst vom Ende her, vom Kreuz her sollen wir den Weg von Anfang an wiederholen, um verstehen zu können.

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Es gibt Rückblicksmenschen und es gibt Vorschaumenschen. Und irgendwie ist man in seinem Leben doch auch beides. In jungen Jahren mehr Vorschaumensch, im Alter mehr Rückblicksmensch. Die Kirche ist eine Rückschaugemeinschaft. Vielleicht hängt es ja damit zusammen, dass in der Kirche immer viel mehr alte Menschen als junge Menschen sitzen. Alten Menschen fällt es leichter, eine Gemeinschaft interessant zu finden, die sich darauf verständigt hat, zurückzublicken.

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„Liebe Brüder und Schwestern, … ich hatte beschlossen, bei euch nichts anderes zu wissen außer das eine: Jesus Christus, und zwar den Gekreuzigten“, schreibt Paulus. „… und du wirst hinter mir hersehen“, spricht Gott zu Mose.

Man muss ein Gedächtnis bekommen, um glauben zu können. Man muss gedenken können, um hoffen zu lernen. Man muss sich erinnern, um zu spüren, dass Gott noch bei einem ist. Man muss ein paar Verheißungen im Gepäck haben, um zu sehen, wie es sich fügt. Solche Verheißungen sind oft Rätselworte, geheimnisvoll, kaum verständlich Orakel. Doch im Rückblick auf deinen Weg fangen sie an zu sprechen und überzeugen dich, dass dein Weg kein Irrweg und dein Gang kein einsamer ist. Man muss den Rückblick und die Nachsicht üben, um das Gespür dafür zu haben, dass es einen Weg gibt bis zum Horizont, den Gott mitgeht und darüber hinaus. Gott macht uns zu solchen Rückblicksmenschen, damit wir den Weg vor uns erkennen.

Amen.