Die Wüste. Trocken und heiß. Hier und da ein paar dürre Büsche. Und Steine. Ungeordnet. Berge in der Ferne. Hinter den Bergen flirrender Horizont. Manchmal bäumt sich ein Erdmännchen aus einem Erdloch auf.
Die Stadt. Kühl und feucht. In ihrer Mitte ein Platz mit kleinen Bäumchen in Reih und Glied. Und Steine. Zu einem quadratischen Muster gepflastert. Keine Berge, kein Horizont, nur Häuserfluchten. Manchmal huscht eine Ratte aus einem Gully.
Gottesbegegnungen.
Ein Mensch geht durch die Wüste. Er hütet Schafe. Weiter nichts. Er nähert sich dem Berg. Dort brennt ein Dornbusch. Aus dem Feuer in diesem Busch an diesem Berg spricht Gott. Der Mann zieht die Schuhe aus und verhüllt sein Gesicht.
Menschen gehen in der Stadt über den Platz in ihrer Mitte. Einige haben einen Hund an der Leine. Andere nicht. Einige von denen, die keinen Hund an der Leine haben, gehen die Treppe hoch und in die Kirche. In der Kirche gibt es kein Feuer und keinen Rauch, keine Blumen und keinen Busch. Aber ein Buch. Auf einem Tisch. Keiner zieht die Schuhe aus, keiner verhüllt sein Gesicht. Aber sie schauen hoch auf einen Mann, der auf einer Kanzel steht, und aus einem Buch liest.
Und Mose weidete die Schafe seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian. Und er trieb die Schafe über die Wüste hinaus und kam an den Gottesberg, den Choreb. Da erschien ihm der Bote des Herrn in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Und er sah hin, und sieh, der Dornbusch stand in Flammen, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt. Da dachte Mose: Ich will hingehen und diese grosse Erscheinung ansehen. Warum verbrennt der Dornbusch nicht? Und der Herr sah, dass er kam, um zu schauen. Und Gott rief ihn aus dem Dornbusch und sprach: Mose, Mose! Und er sprach: Hier bin ich. Und er sprach: Komm nicht näher. Nimm deine Sandalen von den Füssen, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden. Dann sprach er: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott hin zu blicken. Und der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Antreiber habe ich gehört, ich kenne seine Schmerzen. So bin ich herabgestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu erretten und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes und weites Land, in ein Land, wo Milch und Honig fliessen, in das Gebiet der Kanaaniter und der Hetiter und der Amoriter und der Perissiter und der Chiwwiter und der Jebusiter. Sieh, das Schreien der Israeliten ist zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie quälen. Und nun geh, ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, heraus aus Ägypten. Mose aber sagte zu Gott: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte? Da sprach er: Ich werde mit dir sein, und dies sei dir das Zeichen, dass ich dich gesandt habe: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr an diesem Berg Gott dienen.
Mose aber sagte zu Gott: Wenn ich zu den Israeliten komme und ihnen sage: Der Gott eurer Vorfahren hat mich zu euch gesandt, und sie sagen zu mir: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen? Da sprach Gott zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: Ich-werde-sein hat mich zu euch gesandt.
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Die Wüste und die Stadt. Der brennende Dornbusch und das gedruckte Buch. Gottesbegegnungen im Busch und im Buch, im Feuer und im Wort. Unvermittelt und vermittelt. Überraschend und gesucht.
Das Buch der Gottesbegegnungen erzählt von allen, von denen im Feuer und in Wolken, von denen im Säuseln des Windes und in den Träumen der Nacht, von denen in Menschen und im Messias, von denen in Wörtern und Büchern. Das Buch erzählt von allen. Aber nicht ungeordnet. Es gibt eine Richtung. Vom Chaos zur Ordnung. Von der Wüste in die Stadt. Vom Berg Choreb zum Berg Zion. Vom Feuer zum Buch. Vom Element zum Geist. Die Richtung, die das Buch der Gottesbegegnungen nimmt, ist die Zivilisationsgeschichte der Religion.
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Die Bibel beginnt mit dem Chaos, dem Tohuwabohu, in das Gott Ordnung bringt, indem er spricht. Wir sehen dann zwar bald schon eine erste Stadt, Babel, mit einem hohen Turm. Aber mit ihr kann Gott sich nicht anfreunden. Sie ist ihm suspekt, weil Menschen mit ihr versuchen, zu ihm in den Himmel aufzusteigen. Lieber kommt er runter zu den Menschen auf die Erde. Und so trifft er auf Erden zunächst Einzelne, die er mit Namen ruft, in den Wüsten, auf den Bergen, an den Brunnen und Bäumen, in den Höhlen und Flüssen. Die Menschen wandern und Gott zieht mit ihnen. Bis sie ein Zuhause gefunden haben und Er auch. Die Stadt, Jerusalem, der Zion, der Tempel. Im Tempel gibt es immer noch viel Feuer und viel Rauch und viele Opfer und eine große Leere. Je weniger die Opfer mit der Zeit werden und je kleiner die Feuer und der Rauch sich verzogen hat, desto mehr füllt sich die große Leere mit Wörtern, mit Schrift, mit Rollen mit Büchern. Und das Berufsbild der Religionsprofis wandelt sich: aus Schlachtern werden Schriftgelehrte.
Als dann der Tempel zerstört wurde, einmal, zweimal und sie ihre Stadt verlassen und in andere weit entfernte Städte ziehen mussten, da hatten sie ihren Gott schon in der Schrift, in den Rollen, in den Büchern. Und so konnten auch die durch Jesus Christus vermittelten Gottesbegegnungen schnell Schrift werden, in Briefen und Evangelien.
Damit leben wir nun seit 2000 Jahren und noch lange, bis am Ende aller Tage die Stadt aus dem Himmel auf die Erde kommt, das neue Jerusalem für alle Völker und ohne Tempel und ohne Feuer und ohne Buch, aber mit geordneten Bäumen auf dem Platz und einen Gott im Zelt. So jedenfalls steht es am Ende des Buches, der Bibel geschrieben. Dann endlich scheinen Gottesbegegnungen nicht mehr heikel zu sein. Aber so weit sind wir noch nicht.
Das war, liebe Gemeinde, ein Abriss der Kulturgeschichte der Gottesbegegnungen, die Geschichte der Zivilisierung der Religion, wie sie im Buche steht.
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In der Erzählung vom brennenden Dornbusch finden wir all dies in einer einzigen Erzählung. Mose ist nicht auf der Suche nach Gott. Er hütet bloß Schafe. Er sieht einen Busch, der brennt, aber nicht verbrennt. Das weckt seine Neugier. Er will sich das näher ansehen. Da hört er seinen Namen rufen: „Mose!“ und die Warnung, nicht näherzutreten. Der Ort um diesen Busch herum sei heiliger Boden.
Es beginnt also mit einer ungewöhnlichen Naturerscheinung. Das sind die ursprünglichen Orte, an denen Menschen Gott anwesend glaubten: brennende Berge, Vulkane, bebende Erde, heilige Berge und alte Bäume. Doch die Erzählung hält sich nicht lange beim wunderhaften Naturphänomen auf. Gott ergreift gleich das Wort und spricht Mose an. Mit Namen. Es geht gleich um die persönliche Beziehung. Aber im selben Moment hält er ihn auf Abstand. Tritt nicht näher, der Boden ist heilig.
Es ist Gott, der die persönliche Beziehung definiert, der Nähe schafft, ohne distanzlos zu werden. Gott will Vertrautheit schaffen, sich dabei aber nicht vereinnahmen lassen. So stellt er sich Mose als Gott seiner Väter vor. Als sagte er: Ich bin in deiner Familie kein unbekannter. Nur wir beide kennen uns noch nicht.
Da verhüllte Mose sein Angesicht, denn er fürchtete sich, zu Gott hin zu blicken.
Jetzt ist es Mose, der auf Distanz geht.
Wenn Menschen sich zum ersten Mal begegnen, ist das Austarieren von Nähe und Distanz entscheidend. Das gilt bei Gottesbegegnungen in besonderem Maße. Man will sich nahekommen, aber nicht den Respekt voneinander verlieren. In einigen Religionen hat sich dies noch in Riten erhalten, die vollzogen werden, wenn man sich Gott und heiligen Räumen nähert.
Muslime ziehen die Schuhe aus, wenn sie die Moschee getreten. Nicht nur der Schmutz der Welt soll draußen bleiben. Die Füße, der ganze Mensch sollen sensibler werden. Ohne Schuhe muss man seine Schritte sorgfältiger setzen, kann nicht mehr auf großem Fuß leben und über alles hinweggehen. In Gottes Nähe wird man zum Leisetreter.
Jüdische Männer bedecken ihr Haupt, wenn sie die Synagoge und andere heilige Orte betreten. Man kann mit Gott reden, aber ihm ins Angesicht sehen, ist gefährlich. Das hat vermutlich etwas mit Scham zu tun. Vor dem sich zeigenden, sich offenbarenden, sich enthüllenden Gott muss man sich verhüllen. Jedenfalls so lange man ihn noch nicht beim Wort nehmen kann, beim Wort der Nachsicht und der Gnade.
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Nachdem Mose sein Angesicht verhüllt hat, erklärt Gott sich weiter. Er habe das Elend des Volkes gesehen, er habe ihr Schreien gehört. Bevor Gott redet, hört er. Dann handelt er und beauftragt Mose, das Volk aus dem Elend herauszuführen.
Und was dann kommt, ist fast schon jenseits aller Religion. Es ist ein Gespräch zwischen Vertrauten. Mose erhält seine Mission. Er bekommt detaillierte Anweisungen für den Befreiungsplan. Dabei kommt die Frage der Legitimation auf. Werden sie mir glauben, wenn ich in deinem Namen operiere, fragt Mose. Wie ist dein Name? Und nun gibt Gott dem Mose seinen Namen. Mit dem Namen liefert er sich ihm aus, gibt er sich in die Hand des Mose. Und doch auch wieder nicht vollständig. Es ist der letzte Akt dieses konzentrierten Spiels um Nähe und Distanz, dieses Austarierens von Vertrautheit und Respektswahrung. Gott gibt dem Mose nicht direkt seinen Namen, sondern nur eine vielsagende Umschreibung und Deutung seines Eigennamens. Gottes Name ist so ähnlich wie das hebräische Wort für sein. Er selbst erklärt seinen Namen, ohne ihn direkt auszusprechen, mit: Ich bin, der ich bin oder Ich werde sein, der ich sein werde oder Ich bin da. All das kann es bedeuten. Mose weiß nun, wer dieser Gott ist, der ihm aus dem Feuer mit Namen gerufen hat. Und weiß es doch nicht. Es ist ein auf Zukunft hin offenes Kennenlernen. Du weiß jetzt, wer ich bin, aber du wirst mich noch näher kennenlernen. Denn unsere gemeinsame Geschichte beginnt jetzt erst.
Und im Laufe dieser Geschichte wird die Anbetung Gottes im Abbild eines Naturwesens, dem Goldenen Kalb, negiert und Mose erhält die Offenbarung Gottes fixiert in wenigen Wörtern auf steinernen Tafeln.
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Gottesbegegnungen. In der Wüste und in der Stadt. Im Feuer und im Buch. Damals und heute.
Wird Gott uns ansprechen? Mitten in der Stadt, in einer nüchtern reformierten Kirche? Nicht aus einem brennenden Busch, nicht mal aus einer Kerze, sondern aus einem dicken Buch? Gottesbegegnungen ohne religiöses Verhalten. Wir lassen die Schuhe an und den Kopf unbedeckt. Nicht einmal das Buch behandeln wir ehrfurchtsvoll. Es muss alles aus der Schrift heraus kommen.
Anspruchsvoll – aber auch ansprechend für Menschen, die hören und lesen können. Wenn es allerdings gelingt, wenn es so wirklich zu einer Gottesbegegnung kommt, dann wird sie ein Maß von Vertrautheit herstellen, das kein spektakulär brennender Busch je erzeuge kann, und es wird zu Gesprächen auf Augenhöhe kommen, für die man keine Wüste, keine Stadt, keinen Tempel und keine Kirche mehr braucht. Mit Gott wie mit einem guten Freund. Überall und überall hin.
Amen.