Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Gesegnet sei der Gott und der Vater unseres Herrn Jesus Christus – der Vater der Erbarmungen und der Gott allen Trostes. Er tröstet uns in all unserer Bedrängnis, damit wir euch trösten können in aller Bedrängnis mit dem Trost, mit dem wir getröstet werden von Gott. Denn so überströmend die Leiden des Christus in uns sind, so überströmend ist auch unser Trost durch Christus. Sind wir nun bedrängt, so für euren Trost und eure Befreiung. Werden wir getröstet, so für euren Trost, der wirksam wird im Ausharren derselben Leiden, die auch wir erleiden. Und so steht unsere Hoffnung für euch fest, da wir wissen: wie ihr in der Gemeinschaft des Leidens seid, so auch in der des Trostes.

Eine Stimme wird in Rama gehört: ein Wehgesang, bitteres Weinen. Rachel weint um ihre Kinder und weigert sich, sich trösten zu lassen um ihre Kinder, denn sie sind nicht mehr. So heißt es im Buch Jeremia. Matthäus zitiert dies Wort bei seiner Erzählung vom Kindermord in Bethlehem. Auch von Jakob heißt es, dass er sich weigerte, sich trösten zu lassen, als ihm der blutige und zerfetzte Rock seines Sohnes Josef präsentiert wird. Im Psalm 77 heißt es: Am Tag meiner Drangsal suche ich meinen Herrn; nachts ist ausgestreckt meine Hand und erlahmt nicht; meine Seele weigert sich, sich trösten zu lassen. Und im Buch Jesaja: Wendet euch von mir, ich muss bitter weinen; strengt euch nicht an, mich zu trösten.

Trösten ist schwer, und die Weigerung, sich trösten zu lassen, ist verständlich. Wenn sehr Schlimmes geschehen ist und noch geschieht, wäre es doch Verrat, mich trösten zu lassen, Verrat an denen, die mir genommen, die mir geraubt wurden. Die Weigerung, sich trösten zu lassen, ist die Weigerung darin einzuwilligen, dass dieser Verlust durch die liebevolle Zuwendung anderer sich kompensieren lässt, als wären Menschen ersetzbar; die Weigerung zuzugeben, dass Schmerzen gestillt, Verletzungen geheilt werden können. Und doch wäre es gut, trösten zu können, das Leid unserer Mitmenschen zu lindern, ihnen behutsam und geduldig herauszuhelfen aus ihren dunklen Löchern; ihnen nicht hilflos, sondern hilfreich zur Seite zu stehen.

Viele Menschen sind zu uns gekommen, viele werden noch kommen, die Schlimmes durchgemacht haben; die Menschen verloren haben oder in Sorge sind um die, die sie zurücklassen mussten. Auch zerstörte Städte sind Grund für Trauer – wir leben in einem Land, in dem viele Städte Spuren und Narben des letzten Kriegs tragen. Menschen, die dem Krieg entkommen sind, tragen ihn mit sich. Ihr Leben, ihre Seele ist erschüttert, und diese Erschütterung macht sie brüchig. Und erschüttert sind auch wir, obwohl wir das alles nicht durchmachen müssen, allenfalls wirtschaftliche Folgen uns Sorgen machen. Neben Zorn und Empörung empfinden auch wir Schmerz und Trauer über all das, was wir von diesem Krieg mitbekommen. Wir wünschen uns nicht nur die Fähigkeit, andere zu trösten, wir wünschen uns auch selbst Trost.

Sollen wir darauf hoffen, darauf trauen, dass vielleicht nur Gott selbst trösten kann? Von ihm heißt es, dass er alle Tränen von aller Augen abwischen wird – nicht als hilflose Geste, sondern als wirksamer Trost. Und der Prophet Jeremia hat ein Wort von Gott selbst gehört, das er Rachel zuspricht – als eine der Erzmütter personifiziert sie ihr Volk: Lass dein Schreien und dein Weinen, denn deine Mühe wird belohnt werden. Gott kann gewiss auch ohne Worte trösten – durch seinen Geist, der im Johannesevangelium oft Tröster genannt wird. Doch wir hoffen darauf, dass er das auch durch sein Wort tut, durch die frohe Botschaft der Bibel beider Testamente. Und wir hoffen auch, dass wir solche Worte wirksam anderen weitersagen, wenn sie uns erreicht, berührt und bewegt haben. Gott selbst fordert dazu auf. Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet freundlich mit Jerusalem, heißt es ebenfalls im Buch Jesaja.

Paulus versucht das. Er beginnt sein Trostschreiben damit, dass er Gott segnet. Wenn wir einander Segen zusprechen, wünschen wir einander Glück und Erfolg, Kraft und Mut. Das ist auch so, wenn Paulus Gott segnet – und nicht nur Paulus: der Siddur, das jüdische Gebetbuch ist voll von Gebeten, die mit den Worten beginnen: gesegnet seist du, HERR, unser Gott, König der Welt. Gott segnen, das bedeutet: ihn bestärken in dem, was er vorhat; was er verheißen hat; ihm Glück und Erfolg wünschen. Ähnlich verhält es sich, wenn wir im Vaterunser darum flehen, dass sein Wille geschieht, allem Widerstand und Widerwillen zum Trotz; dass sein Reich, sein Regieren sich durchsetzt gegen alle anderen Herrschaften und Gewalten. Gott segnen, das ist möglich auch in Situationen, in denen es uns schwer ist, ihn zu loben und zu preisen, weil so grell vor Augen steht, so drückend auf dem Herzen liegt, was wir nicht zusammenbringen können mit dem, was wir als seinen Willen erkannt zu haben glauben. Ihm dennoch unseren Segen zu geben ist ein Vertrauensvotum, wenn wir sein Handeln nicht verstehen, nicht einmal erkennen.

Der Segenswunsch des Paulus kommt erkennbar aus der Tiefe. Er ist in Bedrängnis, in Drangsal, läuft ständig Gefahr, verhaftet, gefoltert, getötet zu werden. Kurz nach unserem Abschnitt deutet er an, gerade einer lebensgefährlichen Situation entronnen zu sein. Ihm war schweres aufgeladen, über seine Kraft. Er hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen, ihm stand der Tod vor Augen. Da vertraute er nicht auf sich selbst, sondern auf den Gott, der die Toten erweckt. Auch da greift er zum jüdischen Gebetbuch. In der zweiten Bitte des Achtzehn-Bitten-Gebets heißt es: treu bist du, die Toten wieder zu beleben. Gelobt seist du, Herr, der die Toten lebendig macht. Doch Paulus kam frei, und das wurde ihm zur Ostererfahrung. Darum spricht er in seinem Segenswort von Gott als dem Gott und dem Vater Jesu Christi. Er legt Gott darauf fest, dass der sich auf Jesus Christus festgelegt, in ihm erkennbar gemacht hat. Paulus führt genauer aus, was er mit Gott und Vater Jesu Christi meint: der Vater Jesu Christi, das ist der Vater, der Ursprung und Urheber der Erbarmungen; und der Gott Jesu Christi, das ist der Gott allen Trostes. So hat er Gott in seinem Handeln in Jesus Christus kennengelernt. In ihm hat sich Gott aller Menschen erbarmt, sich ihrer angenommen, ist hilfreich an ihre Seite, an ihre Stelle getreten. So hat er sich erwiesen nicht nur als einer, der wirksam trösten kann, sondern geradezu als Gott allen Trostes.

An die Jesusgeschichte hält sich Paulus auch im Blick auf sein Leiden und auf das seiner Adressaten. Er fragt nicht hadernd nach dem Warum – wie das viele Menschen, die Schlimmes erleiden, spontan tun –, fragt nicht: warum geschieht das mir? Ich tue doch Gutes, verbreite in aller Welt Evangelium, gute Botschaft. Sondern er fragt Wozu. Wozu kann dies Leiden gut sein, wozu mich bringen, mich qualifizieren? Zum Zentrum seiner Botschaft gehört, dass Jesus leiden und qualvoll sterben musste – in diesen Wochen der Passionszeit werden wir daran besonders erinnert. Sein Weg war und ist kein strahlender Sieg, kein glänzender Triumphzug. Er wurde selbst zum verlorenen Sohn, um die Verlorenen zu suchen und zu finden und nachhause zum Vater zu bringen. Seine Methode, das Reich Gottes herbeizuführen, die noch herrschenden Mächte und Gewalten zu besiegen und zu beseitigen, war, sich ihnen auszuliefern. Paulus versteht und verkündet diesen Weg als Gottes Solidarisierung mit denen, die Unrecht leiden. Und nun versteht er sein Leiden auch umgekehrt als seine Solidarisierung mit seinem leidenden Herrn: es sind die Leiden des Christus, die so überreich, überströmend auf ihn gekommen sind.

Zum Zentrum seiner Botschaft gehört nun auch, dass es beim Leiden und Sterben Jesu nicht geblieben ist. Er wurde auferweckt. Für Paulus bedeutet das im Blick auf seine Bedrängnis: sein Leiden beweist nicht, dass er im Unrecht ist und darum zurecht bestraft wird – auch das könnte ja eine Sinngebung sein; es beweist auch nicht, dass er auf verlorenem Posten steht, er in einer hoffnungslosen Situation ist; fast könnte man sagen: im Gegenteil. Darum versteht er sein Leiden nicht nur als Teilnahme und Teilhabe am Leiden des Christus, sondern erfährt zugleich reichen Trost aus der Osterbotschaft: so überströmend die Leiden des Christus in uns sind, so überströmend ist auch unser Trost im Christus. Ein anderer Paulus, der Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt, dessen Lieder viele Menschen vieler Generationen getröstet haben, sagt es so: „Die Trübsal trübt mir nicht mein Herz und Angesicht; das Unglück ist mein Glück, die Nacht mein Sonnenblick.“ Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno drückt sich vorsichtiger, zurückhaltender aus: „Es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der auf das Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.“ Das hat für Adorno freilich bittere Konsequenzen, die er etwas paradox formuliert: Für ihn ist „unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewähren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen. Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen: der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einer zur Verhärtung des Leidens.“ Wir hören deutlich die Stimme eines Menschen, der sich weigert, sich trösten zu lassen, obwohl er am Trost und auch an Schönheit festhält: im Blick, der auf das Grauen geht und ihm standhält.

Leiden, Schmerz, Trauer können in der Tat einsam machen. Nicht mit Unwillen, aber mit völligem Unverständnis, mit tiefer Fremdheit blicken Leidende und Trauernde auf ihre unbekümmert frohgemuten Mitmenschen, die offenbar die furchtbaren Nachrichten noch nicht gehört haben. Gegen diese Vereinsamung arbeitet und schreibt Paulus an. Seine Erfahrung des Leidens und des Trostes qualifizieren und verpflichten ihn dazu, andere zu trösten. Sind wir nun bedrängt, so für euren Trost und eure Befreiung. Werden wir getröstet – so auch für euren Trost. Er will erreichen, dass Leiderfahrungen uns nicht vereinsamen und trennen, sondern zusammenbringen, Gemeinschaft stiften: die Gemeinschaft mit Jesus Christus und unter uns. Er knüpft Beziehungen und hält sie aufrecht auch über Entfernungen hinweg; darum schreibt er unermüdlich Briefe. Und die wirken auch über zeitliche Entfernungen hinweg, erreichen auch uns.

Das griechische Wort, das hier mit trösten übersetzt wird, heißt auch ermahnen und ermutigen. Der Tröster, der Geist Gottes, ist auch ein Mutmacher. Das hebräische Wort für trösten hat mit Atmen, mit Aufatmen zu tun. Darum geht es beim Trösten: Leidenden und Trauernden dazu verhelfen, wieder aktiv zu werden, in Gemeinschaft mit Jesus und mit den Seinen zu kämpfen für das Leben, gegen die Macht und die Nacht des Todes. Christen sind Protestleute gegen den Tod, hat der schwäbische Pfarrer und Sozialist Christoph Blumhardt gesagt, und das muss kein hilfloser Protest bleiben. Der Sonntag Lätare ermutigt und ermahnt uns dazu, erinnert uns mitten in der Passionszeit an die tröstliche Osterbotschaft: das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.

Amen.