Berufungslektionen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Was wird einmal aus unseren Kindern werden? Was wird aus Sophie werden, was aus Theodor, was werden sie einmal machen, welche Berufe werden sie haben? Werden sie einmal etwas machen, was sie ausfüllt und da sie mit voller Leidenschaft machen oder werden sie nur arbeiten, um Geld zu verdienen und ihren Lebensinhalt in etwas Anderem finden? Werden sie einer Mission folgen, einer Berufung und etwas bewegen wollen, die Welt, die Gesellschaft etwas besser machen oder anderen Menschen helfen oder wird es ihnen genügen, mit sich und dem eigenen Leben auszukommen und zufrieden zu sein?

Das sind so Fragen. Die hat man als Eltern zuweilen und wenn man sie nicht hat, dann stellt sie der Pfarrer in der Predigt, weil er einen Bibeltext vor sich hat, in dem es genau darum geht. Haben wir eine Bestimmung und wenn ja, wie folgen wir unserer Bestimmung? Wie erkennen wir, wozu wir berufen sind?

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Und der Knabe Samuel diente dem Herrn vor Eli. Und in jenen Tagen war das Wort des Herrn kostbar, Schauungen waren nicht häufig.

2Und eines Tages, als Eli an seinem Ort schlief - seine Augen aber hatten angefangen, schwach zu werden, er konnte nicht mehr sehen - 3und die Lampe Gottes noch nicht erloschen war und Samuel im Tempel des Herrn schlief, wo die Lade Gottes war, 4da rief der Herr Samuel, und dieser sprach: Hier bin ich.

5Und er lief zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Er aber sagte: Ich habe nicht gerufen. Leg dich wieder schlafen. Und er ging und legte sich schlafen. 6Der Herr aber rief nochmals: Samuel! Und Samuel stand auf, ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Er aber sagte: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn. Leg dich wieder schlafen. 7Samuel aber kannte den Herrn noch nicht, und noch war ihm das Wort des Herrn nicht offenbart worden.

8Und wieder rief der Herr Samuel, zum dritten Mal. Und er stand auf, ging zu Eli und sagte: Hier bin ich, du hast mich gerufen. Da begriff Eli, dass es der Herr war, der den Knaben rief. 9Und Eli sagte zu Samuel: Geh, leg dich schlafen, und wenn er dich ruft, so sprich: Rede, Herr, dein Diener hört. Und Samuel ging und legte sich schlafen an seinem Ort.

10Und der Herr kam, stand da und rief wie schon zuvor: Samuel! Samuel! Und Samuel sprach: Rede, dein Diener hört.

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Es ist ja nicht so, dass uns keiner ruft. Wir werden oft gerufen. Kinder rufen ständig nach Ihren Eltern: Mama, Papa, man wird ständig gebraucht. Wer Kinder hat, ist berufen Mutter und Vater zu sein. Und diesen Ruf hörst du täglich, stündlich, bisweilen mehr als dir lieb ist.

Andere Berufungen sind schwerer zu hören. Und manche Berufungen muss man erst hören lernen.

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Samuel musste seine Berufung zum Propheten erst hören lernen. Er brauchte mehrere Anläufe und einen guten Lehrer, um sie zu erkennen.

Samuel war das Wunschkind der Hanna. Hanna bekam lange kein Kind. Darüber wurde sie sehr traurig. Jedes Jahr pilgerten sie zum Tempel Gottes in Schilo, wo der alte Eli Priester war und auch dessen Söhne, aber die waren ziemlich korrupt und nahmen vom Opferfleisch viel mehr, als ihnen zustand, und trieben es mit den Tempeldienerinnen, was auch gar nicht in Ordnung war. Eli wusste das, fand es nicht gut, tat aber nichts gegen das Treiben seiner Söhne.

Als Hanna wieder im Tempel war und sehr verzweifelt, legte sie ein Gelübde ab: Wenn Gott sie nicht vergisst und ihr einen Sohn schenkt, wolle sie den dem Herrn weihen und nie seine Haare schneiden. Priester hatten damals offenbar ziemlich lange Haare.

So geschah es dann. Wieder zu Hause schlief ihr Mann gleich mit ihr und jetzt wurde sie schwanger. Sie nannte das Kind Samuel und brachte den Jungen, kaum, dass sie ihn abgestillt hatte, zu Eli in den Tempel, dankte Gott und betete einen der schönsten Lobgesänge der Bibel, den Psalm der Hanna.

Samuel also wuchs im Tempel auf und ging bei Eli in die Lehre. Er hatte gelernt, auf Eli, seinen Lehrer, zu hören. Auf Gott zu hören, hatte er noch nicht gelernt. Ein Priester muss auf Gott hören. Aber wie lernt man das?

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Auch ein Pfarrer muss auf Gott hören. Im Studium habe ich gelernt, die Bibel auszulegen und darüber nachzudenken, was Glauben in unserer Zeit bedeutet und wie er möglich ist. Das Fach Hörbildung für Gottes Stimme gab es nicht. Auch nach vielen Dienstjahren geht es mir noch wie dem jungen Samuel: Ich rechne gar nicht damit, dass Gott direkt mit mir reden möchte. Er redet mit mir durch das Buch. Aber da muss ich herauslesen und heraushören, was er mir sagt. Würde er mich direkt rufen, möglicherweise im Schlaf oder durch einen Traum, so dass ich wach würde – ich würde wahrscheinlich meine Frau wecken und sie fragen: Hast du mich gerufen?

Man muss lernen, auf Gottes Stimme zu hören. Von selbst ergibt sich das nicht. Du wirst ja ständig gerufen: Mach dies, mach jenes! Hilf mal! Gib acht! Willst du nicht doch…? Besuch mich mal! Bleib bei mir! Doch dann brauchst du jemand, der dir sagt: Hier hat Gott dich gerufen. Es sind ja immer Menschen, die rufen. Wir hören Gottes Stimme nie anders als durch die Stimme von Menschen. Und wir hören sie aus diesem Buch, der Bibel. Da musst du sie herauslesen. Das braucht etwas Übung, kann man aber auch als Laie lernen. Wichtig ist, dass beides gilt: Gott zu vernehmen aus den Stimmen der Menschen und aus den Stimmen des Buches. Das ist nicht alternativ: Entweder aus der Bibel oder aus der Stimme eines Menschen. Vielmehr muss es zusammenpassen. Wenn ein Mensch dich ruft und zu etwas aufruft, das du so oder ähnlich schon mal aus der Bibel gehört hast, dann könnte es die Stimme Gottes sein. Vor allem dann, wenn ein Mensch dich ruft und dein Gewissen sich dann rührt und bemerkbar macht und es dir keine Ruhe lässt, dich immer wieder wach macht.

Du musst also aus dem Buch schon eine Ahnung haben, was Gott sagt und was er sicher nicht sagen würde. Das hilft, die Stimmen der Menschen einzuordnen und vermittelt zumindest eine Ahnung, welcher Ruf von Gott kommen könnte und welcher sicher nicht.

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Als Samuel von Eli den Hinweis bekam, es könnte Gott sein, der sich da bei ihm melde und Samuel endlich antwortete: „Rede, denn dein Knecht hört“, da redete Gott tatsächlich. Doch schön war das nicht, was Samuel da von Gott zu hören bekam. Er werde Eli und seine Familie ewig verurteilen, eine Schuld, die sich niemals sühnen lasse und von der ganz Israel erfahren soll.

Es sind nicht nur angenehme Mitteilungen, die Gott zu machen hat, wenn er zu uns spricht. Wie sollte Gott auch nur Schönes und Gutes zu sagen haben in eine Welt, die so ist, wie sie ist, und zu Menschen, die so sind, wie sie sind? Ein Gott, der das nicht sähe, wäre ja kaum mehr als ein chinesischer Glückskeks. Doch gerade bei den unangenehmen Botschaften kannst du sicher sein, dass die Stimme, die du hörst, nicht die innere Stimme deines Wunschdenkens ist.

Samuel war begreiflicherweise nicht erpicht, seinem Lehrer diese schlechte Nachricht zu überbringen. Er hatte Angst. Doch Eli rief ihn zu sich und befahl ihm, alles offen zu sagen, nichts zu verheimlichen. Eli wusste, dass diese Botschaft von Gott kam. Er hatte früher schon mal Besuch von einem Gottesmann, der ihm ins Gewissen redete. Eli wusste genau, wie korrupt seine Söhne waren und dass er selbst zu schwach war, sie zurecht zu weisen. Was Samuel als Urteil Gottes mitteilte, entsprach dem, was sein Gewissen ihm schon sagte. Eli sagt: Es ist der Herr. Er wird tun, was in seinen Augen gut ist. (1. Sam 3,18)

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Werden wir Gott hören, wenn die Stimmen von Menschen uns rufen? Werden wir uns von Gott berufen lassen? Werden wir unsere Berufung annehmen? Werden Sophie und Theodor ihre Berufung erkennen? Es sind nicht nur Pfarrer, Priester und Propheten, die von Gott gerufen und berufen werden. Alle werden von Gott berufen – in der einen oder anderen Weise.

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Samuel wurde ein Prophet und Königsmacher. Doch wider Willen. Die Sache mit den korrupten Priestersöhnen hatte ihn offenbar geprägt. Er war gegen die Einrichtung eines Königtums in Israel. Er war überzeugt: Könige werden früher oder später korrupt, hören nicht mehr auf Gott, sondern denken nur noch an den eigenen Machterhalt. Doch das Volk wollte einen König. Das hatte militärische Vorteile. Also wurde Saul der erste König in Israel. Samuel salbte ihn. Es kam, wie Samuel es befürchtet hatte, Saul wurde auch korrupt. Sauls Nachfolger David war ein besserer König. Auf ihn hatte Gott Segen gelegt. Doch die meisten Könige danach enttäuschten die in sie gesetzten Erwartungen.

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So spricht der Herr, der dich geschaffen hat, …: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!

Wir werden alle von Gott beim Namen gerufen. Erstmals bei der Taufe. Da sind wir noch zu klein, um den Ruf Gottes zu hören. Dann aber müssen wir es lernen. Gebe Gott, dass wir dabei gute Lehrer und Lehrerinnen haben, die uns das Gehör schärfen, damit wir aus den vielen Stimmen den Ruf Gottes hören. Wenn du dann deinen Namen rufen hörst, dann spricht: Hier bin ich, Herr! Rede, ich höre!“ Und folge deiner Berufung.

Amen.