Warum senkst du deinen Blick?
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Gestern kam mein Bruder zu Besuch. Seit unsere Mutter in Zehlendorf im Pflegeheim wohnt, kommt er alle paar Wochen, sie besuchen und auch mich besuchen. Es ist schön, wenn er kommt. Wir verstehen uns gut. Das ist nicht selbstverständlich. Je länger ich Pfarrer bin, desto deutlicher wird mir das. Je mehr Familiengeschichten ich höre, desto mehr habe ich den Eindruck: Dass Geschwister sich auseinandergelebt haben, keine Kontakt mehr zueinander haben, sich gar zerstritten haben, scheint öfter der Fall zu sein, als dass sie sich verstehen und gerne zusammen sind. Also bin ich dankbar.

Wenn mein Bruder im Sommer kommt, grillen wir am Abend. Irgendwann muss ich mir mal so ein T-Shirt bedrucken lassen mit der Aufschrift „Seriengriller“, wie Proksch eins anhat. Proksch ist der Dorfnazi von Bracken aus Juli Zehs neuem Roman „Über Menschen“. Proksch grillt gern. So einer wie Proksch bin ich auch: Nicht der Dorfnazi (auch nicht der Stadtnazi), aber einer der gern grillt. Ein Seriengriller.

Zumindest äußerlich sind mein Bruder und ich sehr verschieden. Ich könnte neidisch auf ihn sein. Er hat zwei gleiche Augen und noch viele Haar auf dem Haupt, dafür gar keinen Bauch, ist groß und schlank. Das hat ihm im Leben schon viele attraktive Türen geöffnet. Ich hätte viel Grund für Neid. Aber ich bin nicht neidisch auf ihn. Warum eigentlich nicht?

Ich krieg schon noch die Kurve zum Predigttext. Ich wollte nur erst ein paar Steinchen auslegen, Pfade spuren und Zugänge schaffen.

Jetzt kommt der Bibeltext für die Predigt. Hat schon jemand erraten, um was es gehen wird?

Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des Herrn. 2Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, 5aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. 9Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Ich habe die Predigt mit einem Teil meiner Familiengeschichte begonnen. Ist denn nicht alles am Anfang und am Ende eine Familiengeschichte? Die Bibel jedenfalls erzählt die Geschichte der Menschheit als Familiengeschichte. Oft geht es dabei um ungleiche Brüder: Kain und Abel, Noah und seine Familie, Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. Auch wenn die Erzählung die Grenzen Israels wieder verlässt und die Völker, die Heiden in den Blick nimmt, bleiben es Familiengeschichten. Jesus und seine Familie, Maria und Martha (hier mal ungleiche Schwestern), der verlorene und wiedergefundene Sohn und sein neidischer Bruder.

Und manche Familiengeschichten werden zu Kriminalgeschichten. Gleich die erste Familiengeschichte der Bibel wird es.

Wo liegt das Motiv? Eine der häufigsten Fragen bei Krimis? In der ersten Kriminalgeschichte der Menschheit gibt es kein Motiv – kein echtes. Es steht zwar geschrieben, Gott habe Abel und sein Opfer gnädig angesehen, nicht aber Kain und dessen Opfer. Aber das erfahren wir Lesenden und Hörenden. Kain wird es nicht mitgeteilt, weder von Gott selbst noch von einem anderen. Ich frage mich also: Woher weiß Kain, dass Gott den Bruder begünstigt?

Manche vermuten, es habe ein Rauchzeichen gegeben: der Rauch von Abels Opfer stieg senkrecht in den Himmel, der Rauch von Kains Opfer verwehte und kroch über der Erde. So ist es auch auf etlichen bildlichen Darstellungen zu sehen. Das steht nicht im Text und ist albern. Man muss kein Seriengriller sein, um zu wissen, dass der Rauch ein Spiel des Windes ist. Die Frage göttlicher Erwählung am Rauch festzumachen, das wäre ganz windige Theologie.

Seriöser ist eine andere Erwägung. Vielleicht meint Kain, die Erwählung am Erfolg der Arbeit erkennen zu können. Kain wäre also einer von den hartgesottenen Calvinisten, die beruflichen Erfolg und Misserfolg auf ihre Erwählung oder Verwerfung durch Gott zurückführen. Abel, der Viehzüchter, hat mit seiner Arbeit mehr Erfolg als Kain, der Landwirt. Abels Herde wird größer und größer, er selbst wird immer reicher und reicher und Kain dümpelt von Missernte zu Missernte. Ist Abel erwählt und Kain verworfen?

Das wäre eine irgendwie nachvollziehbare Erklärung, vor allem für Reformierte, aber auch davon steht nichts im Text. Es steht nur da, der eine war Schäfer, der andere Ackermann und nicht: der eine war reicher als der andere.

Es gibt kein Indiz, kein Zeichen, kein Rauchzeichen und kein Erwählungszeichen.

Woher also der Groll des Kain gegen seinen Bruder? Kommt er etwa aus dem Nichts? Ein Gefühl der Benachteiligung, der Eindruck einer Ungerechtigkeit, ein Neid, ein Ressentiment aus dem Nichts? Plötzlich ergrimmte Kain und senkte seinen Blick.

Es gibt oft keinen Grund, warum Menschen wütend werden, ergrimmen, ihren Blick senken. Und andere, denen es ebenso gut oder ebenso schlecht geht oder schlechter, tun das nicht, sind zufrieden und schauen fröhlich in die Welt. Es gibt oft keinen Grund, warum die einen andauernd jammern und klagen und schimpfen, und die anderen das Beste aus ihrem Leben und ihrer Situation machen. Liegt es an den Genen, liegt es an den Hormonen? Liegt es daran, dass die einen glauben und hoffen und lieben und die anderen nicht? An den Statistiken kann es nicht liegen. Die objektiven Parameter lassen keinen Unterschied erkennen, die einen haben ebenso viel Vermögen, Bildung, Arbeit, Freizeit, Rente, Gesundheit, Urlaub, etc. wie den anderen. Doch die einen jammern und klagen unaufhörlich und fühlen sich ständig ungerecht behandelt und missachtet und die anderen nicht. Die einen sind Kain, die anderen sind Abel. Die einen gehen mit gesenktem Blick ihrer Wege, die anderen mit aufrechtem Blick.

Natürlich gibt es auch die, die wirklich Grund zur Klage und zum Jammern haben. Mich interessieren heute aber die anderen, die, die sich übersehen glauben, die an ihre Verfluchung glauben.

Das oft unerklärliche Gefühl, übersehen zu werden, ist die Wurzel von vielem Übel in der Welt.

Kain denkt, Gott beachte ihn nicht. In Wahrheit sieht Gott ihn, bemerkt seinen gesenkten Blick und fragt nach: Warum ergrimmst du, warum senkst du deinen Blick?

Ich weiß nicht, ob Kain die Frage Gottes gehört hat. Jedenfalls antwortet er nicht. Es ist ja oft so, dass die, die den Blick senken, nicht nur nichts mehr sehen, sie hören auch nicht mehr. Sie sind verschlossen – in jeder Hinsicht. Sie haben beschlossen, dass sie die Benachteiligten und Übersehenen sind und machen dicht. Sie sehen nicht den Himmel und sie hören auch nicht mehr die leisen Fragen Gottes. Darum müssen die, die sehen können, auf sie mit dem gesenkten Blick zugehen und sie laut fragen: Was ist mit dir? Warum bist du wütend? Warum senkst du deinen Blick?

In ihrem Roman „Über Menschen“ erzählt Juli Zeh, wie zwei Menschen mit Tunnelblick Nachbarn werden und sich sehen lernen. Der Dorfnazi und Seriengriller Proksch ist ein Kain. Abel kommt nicht vor, aber Dora. Sie ist auch Kain, nur ganz anders. Sie zieht aus der Stadt nach Bracken aufs Land und wird Prokschs Nachbarin. Die Kreuzberger Webdesignerin verachtet den Dorfnazi pflichtgemäß und erfährt, dass Proksch wegen versuchten Todschlags an einem Typen der Antifa im Gefängnis saß. Aber Proksch hat eine anhängliche Tochter, hilft Dora ungebeten im Garten und bei der Einrichtung ihres Hauses und lädt sie zum Grillen ein. Als Dora erfährt, dass Proksch einen tödlichen Tumor im Kopf hat, kümmert sie sich um ihn und seine Tochter und kann es nicht glauben, dass sie sich um einen Nazi kümmert.

„Über Menschen“, das ist nicht nur eine originelle Fortsetzung von „Unter Leuten“. Es klingt auch der Begriff „Übermenschen“ an. Es ist ein Roman über Menschen, die erst Menschen werden, nachdem es ihnen gelingt, sich anzusehen und wahrzunehmen. Solange sie versuchen, in der einen oder anderen Weise Übermenschen zu sein, gelingt das nicht. Die Nazis hatten – Nietzsches Übermenschenspinnereien aufgreifend - die Menschheit in Über- und Untermenschen eingeteilt. Kein Wunder, dass sie dabei den Menschen aus dem Blick verloren. Und Doras Kreuzberger Familie und Freunde gebärden sich auch als moralisierende Übermenschen, weil sie genau wissen, wie die Welt funktioniert.

Kain gelingt es nicht, den Blick zu heben. Er fühlt sich missachtet. Und das, obwohl ihn Gott darauf anspricht. Dann nimmt das Drama seinen Lauf.

Kain wird sein ganzes Leben mit gesenktem Blick rumlaufen. Jetzt erst wird Kain das, was er vorher zu sein sich einbildete: ein Verfluchter, der nicht mehr von seiner Hände Arbeit leben kann. Die Geschichte von Kain ist eine trostlose Tragödie.

Anders die Geschichte von Proksch. Auch er wurde beinahe zum Killer. Und anders als Kain muss er sterben: Bevor er an seinem Hirntumor elend zugrunde geht, nimmt er sich das Leben: Vorher aber wurde er geheilt. Die Begegnung mit Dora hat ihm den Blick gehoben, wie auch die Begegnung mi Proksch Dora den Blick gehoben hat. Vielleicht hat sich zwischen Dora und Proksch so etwas wie Liebe entwickelt, vielleicht auch nicht. Das bleibt offen. Vielleicht sollte man nicht zu schnell von Liebe reden, auch in einer Predigt nicht.

Es ist ja schon viel, vielleicht alles gewonnen, wenn man den Blick heben kann. Geradeaus blicken und Menschen sehen, sehen, dass Menschen Menschen sind, keine Über- und keine Untermenschen, nur Menschen eben. Menschen sehen und nicht darauf warten, dass der andere anfängt, mich anzusehen. Nicht nach Rauchzeichen, nicht nach Erwählungszeichen Ausschau halten. Selber aufblicken, Menschen sehen. Und wenn dir einer mit gesenktem Blick begegnet, frag ihn: Warum senkst du deinen Blick?

Und wenn du es bist, der mit gesenktem Blick durchs Leben läuft, dann hör genau hin! Denn Gott fragt dich: Warum senkst du deinen Blick? Dann antworte und warte nicht, bis Gott dich fragen muss: Was hast du getan? Wo ist dein Bruder?

Dora wurde die Hüterin ihres kranken Nachbarn. Das hat auch sie von der Über- und Untermenschenkrankheit geheilt.                  Amen.