Beten für Sodom und Mariupol
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Sodom. Eine Stadt an einem kleinen Meer, das Totes Meer heißt. Eine Stadt, die dem Untergang geweiht war. Sodom, eine Stadt, die es nicht mehr gibt und manche bezweifeln, dass es sie je gegeben hat. Eine Stadt, von der auch in der Bibel nicht viel steht, kaum mehr, als dass Sodom eine Stadt von zweifelhaftem Ruf war. Der war auch Gott zu Ohren gekommen, weshalb er nachsehen wollte, ob das denn stimmt, was man so aus Sodom Schlimmes hörte. Da ahnte Abraham, dass es für Sodom nicht gut ausgehen könnte und stellte Gott zur Rede. Es geht um Menschenleben. Doch hört selbst die Geschichte vom Kampf um Sodom, vom Kampf um Menschenleben:

Und die Männer machten sich auf, und sie schauten auf Sodom hinab, und Abraham ging mit ihnen, um ihnen das Geleit zu geben. Der Herr aber dachte: Soll ich vor Abraham geheim halten, was ich tun will? Abraham soll zu einem großen und mächtigen Volk werden, und durch ihn sollen alle Völker der Erde Segen erlangen. Denn ich habe ihn erkoren, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm gebiete, den Weg des Herrn einzuhalten und Gerechtigkeit und Recht zu üben, damit der Herr über Abraham kommen lasse, was er ihm gesagt hat.

Und der Herr sprach: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, es ist groß geworden, und ihre Sünde, sie wiegt schwer. Ich will hinabsteigen und sehen, ob all ihr Tun dem Geschrei über sie entspricht, das zu mir gedrungen ist; wenn nicht, will ich es wissen.

Da wandten sich die Männer weg von dort und gingen auf Sodom zu. Abraham aber blieb vor dem Herrn stehen.

Und Abraham trat herzu und sprach: Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen? Vielleicht sind fünfzig Gerechte in der Stadt. Willst du sie wirklich wegraffen und dem Ort nicht vergeben um der fünfzig Gerechten willen, die in seiner Mitte sind? Das sei ferne von dir, so zu tun, den Gerechten zusammen mit dem Frevler zu töten, so dass es dem Gerechten wie dem Frevler erginge. Das sei ferne von dir! Der Richter der ganzen Erde, sollte der nicht Recht üben?

Der Herr sprach: Wenn ich in Sodom fünfzig Gerechte in der Stadt finde, werde ich dem ganzen Ort um ihretwillen vergeben.

Abraham antwortete und sprach: Sieh, ich habe es gewagt, zu meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen von den fünfzig Gerechten fünf. Willst du wegen der fünf die ganze Stadt verderben? Er sprach: Ich werde sie nicht verderben, wenn ich dort fünfundvierzig finde.

Und er fuhr fort, zu ihm zu reden, und sprach: Vielleicht finden sich dort vierzig. Er sprach: Ich werde es nicht tun um der vierzig willen.

Da sprach er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich rede. Vielleicht finden sich dort dreißig. Er sprach: Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde.

Da sprach er: Sieh, ich habe es gewagt, zu meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort zwanzig. Er sprach: Ich werde sie nicht verderben um der zwanzig willen. Da sprach er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich dies eine Mal noch rede. Vielleicht finden sich dort zehn. Er sprach: Ich werde sie nicht verderben um der zehn willen. Als er aufgehört hatte, zu Abraham zu reden, ging der Herr. Abraham aber kehrte an seinen Ort zurück.

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Sodom, eine Stadt, die dem Untergang geweiht war. Sodom, eine Stadt, auf die einer schaut und um die einer ringt. Er tut das geschickt und hartnäckig. Als ginge es gar nicht um Menschenleben, sondern um Kichererbsen. Abraham redet mit Gott. Mit Gott reden, das nennt man Gebet. Aber Abraham ist eher auf einem Basar als in der Kirche. Er handelt Gott runter. Er setzt hoch an, bei 50. Und packt Gott bei dessen Ehre, bei dessen Gerechtigkeitsempfinden und legt ihm eindringlich die Antwort in den Mund: „Das willst du doch nicht tun! Du willst doch nicht ungerecht sein und die Gerechten zusammen mit den Frevlern vernichten. Das sei ferne von dir, der du ein gerechter Richter der ganzen Welt bist.“ Sobald Gott einlenkt, hakt Abraham nach, geht auf 45, nennt aber nicht 45, sondern sagt geschickt: Und wenn nur 5 fehlen bis zu den 50? 45 würde nach einer neuen Vereinbarung klingen. Aber wegen 5, die an der vereinbarten Zahl an Gerechten fehlen könnten, soll doch die Abmachung nicht scheitern. Wegen 5 wird man sich doch nicht streiten. Schritt um Schritt handelt Abraham Gott runter auf 10 Gerechte, um derentwillen die Stadt verschont bleiben soll.

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Mariupol. Eine Stadt an einem kleinen Meer, das Asowsches Meer heißt. Mariupol, eine Stadt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Stadt, die es fast nicht mehr gibt. Eine Stadt, auf die die ganze Welt schaut und um die gerungen wird. Es geht um Menschenleben.

Wollt ihr wirklich die unschuldigen Zivilisten in den Bunkern unter dem Stahlwerk zusammen mit den Soldaten des Asowregiments töten?

In den letzten Wochen kamen alle Zivilisten aus den Bunkern raus, nach und nach, mal 50, mal 100 mal 200, und in dieser Woche die dort noch verbliebenen Soldaten. Es muss dort jemand gut verhandelt haben. Hatte Mariupol auch einen Abraham? Und mit wem wurde verhandelt, mit Gott oder mit Putin?

Sicher auch irgendwie mit Putin. Vermutlich passiert in diesem schrecklichen Krieg auf russischer Seite nichts, ohne Putins Befehl oder Billigung.

Aber auch mit Gott wurde verhandelt. Von vielen, von Millionen, von allen auf der ganzen Welt, die auf diese Stadt am kleinen Asowschen Meer schauten. Täglich baten Millionen in ihren Gebeten um die Rettung der Eingeschlossenen von Mariuopol. Auch Gebete sind Verhandlungen. Viel wichtiger, weil noch viel wirksamer als die Lieferung schwerer Waffen ist das Gebet.

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Ums Beten geht es heute am Sonntag Rogate. Um Beten als dem Ersten und Letzten und Wichtigsten, was Christen tun können - und jeden Tag und rund um die Uhr und überall auf der ganzen Welt unaufhörlich tun. Es vergeht keine Sekunde, an der nicht ein Gebet von diesem Planeten in den Himmel steigt.

Zwei Fragen sind am Sonntag Rogate zu beantworten, zwei Fragen, die sich immer stellen, wenn man übers Beten nachdenkt. Erstens: Wie sollen wir beten? Zweitens: Nützt Beten was?

Die erste Frage lässt sich leicht beantworten im Blick auf die beiden Texte, die wir eben gehört haben. Wie sollen wir beten? In einer Mischung aus Gott nerven und mit Gott hartnäckig verhandeln. Gott auf die Nerven gehen, das rät uns Jesus mit seiner Geschichte vom Menschen, der seinen Freund nervt und mitten in der Nacht aus dem Bett holt. Denn wer zu kleinlaut bittet, hat den Glauben an die Erfüllung seiner Bitten ja schon aufgegeben. Wer dagegen hartnäckig bittet, will sein Ziel erreichen. Also: Wer denkt: Gott weiß schon und Gott wird schon… wird nicht richtig beten. Nein, Gott weiß nicht und wird nicht: Ich muss ihn erinnern und auf die Beine bringen. Ich muss Gott mit meinem Gebet wecken.

Und die andere Geschichte mit Abraham und sein Ringen um die Gerechten von Sodom sagt: Bittet nicht nur einmal, bittet zweimal, dreimal, viermal, bleibt am Ball, handelt mit Gott. Versucht, ihn zu überzeugen. Man muss Gott auf die Pelle rücken und man muss Gott überreden.

Beides, Gott nerven wollen und Gott überzeugen wollen, beides sind Zumutungen für unser Gottesbild. Aber genau um diese immer wieder nötige Korrektur unseres Gottesbildes geht es in der Schule des Betens am Sonntag Rogate.

Wie also sollen wir beten? Die erste Frage lässt sich leicht beantworten: Hartnäckig und überzeugend.

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Bleibt die zweite Frage: Nützt denn Beten etwas? Diese Frage ist viel schwerer zu beantworten. Wie will man den Erfolg eines Gebetes messen? Es gibt empirische Studien, die eine positive Wirkung des Gebets auf die Betenden meinen belegen zu können. Auf eine schlichte Formel gebracht: Kranke, die beten, werden leichter gesund.

Und was sagt die Bibel über den Nutzen des Betens?

Gerade mit Blick auf die Geschichte von Sodom müsste man resignieren: Abraham hat hart verhandelt, aber am Ende hat alles nichts genützt. Sodom ging unter mit Mann und Maus. Es waren wohl nicht einmal zehn Gerechte in der Stadt.

Abrahams Bruder Lot war mit seiner Familie dort zu Gast, aber das Gastrecht wurde nicht geachtet, sie waren dort als Fremde sexuellen Übergriffen ausgesetzt und konnten nur knapp entkommen. Als die Sonne über dem Land aufgegangen … 24liess der Herr Schwefel und Feuer auf Sodom und Gomorra regnen, vom Herrn vom Himmel herab. 25Und er zerstörte diese Städte und die ganze Ebene, alle Bewohner der Städte und was auf der Erde wuchs. (1. Mose 19,23-25) Lots Frau war etwas zögerlich bei der Flucht und erstarrte beim Blick zurück vor Entsetzen zur Salzsäule.

Vieles, was wir dieser Tage auf den Bildschirmen aus diesem Krieg sehen, lässt uns auch erstarren.

Nicht jedes Gebet wird erhört. Das gehört auch zu den christlichen Grunderfahrungen. Dennoch hören wir nicht auf zu beten. Auch wenn nicht jedes Gebet erhört wird, heißt das ja nicht, dass kein Gebet erhört wird. Viele werden erhört. Aus der Hölle von Sodom sind die Menschen nicht rausgekommen. Mag sein, dass es dort ausschließlich Frevler gab. Das jedenfalls legt der Mythos von Sodom und Gomorrha nah. Manchmal ist es ja gut, dass man sich sagen kann: Das war ja gar nicht so, das ist ein Mythos, Sodom hat es nie wirklich gegeben.

Mariupol aber ist eine Stadt, die es wirklich gibt. Aus der Hölle von Mariupol sind viele rausgekommen. Die Gebete von Millionen wurden erhört. Und deshalb werden wir weiterbeten, so lange dieser Krieg noch dauert. Und es sieht danach aus, dass er noch dauern könnte.

Beten. Es gibt keine Erfolgsgarantie für das Beten. Und doch ist es das Beste, was wir tun können. Beten, Gott wecken, Gott erinnern, Gott überreden. Denn Er will sich von uns wecken, erinnern und überreden lassen.

Amen.