„Du bist ein Gott, der mich sieht“.
Pfarrer Dr. Bernd Krebs

Und Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren; sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hiess Hagar. 2Und Sarai sprach zu Abram: Sieh, der Herr hat mich verschlossen, so dass ich nicht gebären kann. So geh zu meiner Magd, vielleicht bekomme ich durch sie einen Sohn. Und Abram hörte auf Sarai.3Da nahm Sarai, Abrams Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau. 4Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Und sie sah, dass sie schwanger war; da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen. 5Sarai aber sprach zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich. Ich selbst habe meine Magd in deinen Schoss gelegt. Und kaum hat sie gesehen, dass sie schwanger ist, da bin ich gering in ihren Augen. Der Herr sei Richter zwischen mir und dir. 6Und Abram sprach zu Sarai: Sieh, deine Magd ist in deiner Hand. Mach mit ihr, was gut ist in deinen Augen. Da behandelte Sarai sie so hart, dass sie ihr entfloh. 7Der Bote des Herrn aber fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur. 8Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, wo kommst du her, und wo gehst du hin? Und sie sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht. 9Da sprach der Bote des Herrn zu ihr: Kehr zurück zu deiner Herrin und ertrage ihre Härte. 10Und der Bote des Herrn sprach zu ihr: Ich werde deine Nachkommen reichlich mehren, dass man sie nicht zählen kann in ihrer Menge. 11Dann sprach der Bote des Herrn zu ihr:
Sieh, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, und du sollst ihn Ismael nennen, denn der Herr hat auf deine Not gehört.12Er wird ein Wildesel von einem Menschen sein, seine Hand gegen alle und aller Hand gegen ihn, und allen seinen Brüdern setzt er sich vor die Nase.
13Da nannte sie den Namen des Herrn, der zu ihr geredet hatte: Du bist El-Roi. Denn sie sprach: Wahrlich, hier habe ich dem nachgesehen, der auf mich sieht. 14Darum nennt man den Brunnen Beer-Lachai-Roi. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. 15Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismael. 

 

Die Standesordnung, hierarchisch und auf den Mann ausgerichtet, ließ Frauen jahrhundertelang nur die Alternative: „Heiraten und Kinder gebären“ oder „Bordell“. Es sei denn, die Familien – und hier wieder zuerst die Männer – beschlossen, sie in ein Kloster zu geben. 

Das war die „Auswahl“, in die sich Frauen fügen mussten, in Europa bis weit in das 19.Jahrhundert hinein. In vielen Ländern aber gilt diese „Auswahl“, die keine ist, bis heute, sich der Familie des Mannes unter- und einzuordnen oder unter zweifelhaften Umständen am Rande vegetieren zu müssen. Wobei es unerheblich ist, ob „Mann“ sich zur Rechtfertigung auf die Bibel oder den Koran meint berufen zu müssen, es ging und geht am Ende immer um die sogenannte „göttliche Ordnung“, die im Kern als „männliche“ Ordnung daher kommt. 

An ihrer Durchsetzung und Aufrechterhaltung aber haben allzu oft Frauen einen gehörigen Anteil.

Das zeigt die Geschichte von Abram, Sarai und Hagar.  Sarai führt Abram ihre Sklavin Hagar zu, damit sich der verheißene Nachkomme endlich einstellt, damit die Schande der Kinderlosigkeit nicht an ihr, der Frau, haften bleibt. 

Das Mittel der Leihmutterschaft war damals ein durchaus gängiges Mittel. Der Nachkomme (der männliche), auch wenn von der Leihmutter geboren, stärkte – so oder so -  den sozialen Status der Frau und deren Machtposition in der Großfamilie.  Viele Kinder, vor allem Söhne erhöhen den sozialen Status einer Frau, das galt damals im soziokulturellen Milieu, in dem die Erzelternerzählungen angesiedelt sind; das gilt heute noch immer in vielen Kulturen. 

Im Laufe der Schwangerschaft verändert sich Hagar. Ihr Stolz erwacht. Sie beginnt Sara zu verachten. “Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering,“ übersetzt Luther, treffender übersetzt: „Da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen“. 

So entstehen „Weltanschauungen“, die vor allem ja Anschauungen von und über Menschen sind. „Sehen“ ist kein neutraler, kein wertfreier Akt. „Sehen“/“Anschauen“ bedeutet zu werten und zu bewerten. Unsere Ängste, unsere Hoffnungen, die Verletzungen, die man uns zugefügt hat, die Liebe, die uns zu Teil wurde, sie prägen unser „Sehen“ und unser „Anschauen“. 

„Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben, nun sie aber sieht (!), dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. … Abram aber sprach: Siehe (!), deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir`s gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh“. 

Was Luther mit dem Wort „demütigen“ wiedergibt, andere Übersetzer mit „hart behandeln“, bezeichnet im Hebräischen ein breites Spektrum mittelbarer und unmittelbarer Gewalt: ausbeuten, erniedrigen, bis hin zur sexuellen Gewalt. 

Wie weit Sarai tatsächlich geht, das erfahren wird nicht. Dass Hagar flieht, läßt einiges erahnen. Mit seiner Maßgabe: „sie ist unter deiner Gewalt, tu mit ihr wie`s dir gefällt“, hat Abram die Verantwortung Sara zugeschoben.  Damit ist er – formal betrachtet – raus aus allem, was Sara in ihrer Verzweiflung tun wird. In die vorgeblich „göttliche“, d.h. patriarchalische Welt, eingebunden, können auch Frauen zu Tätern werden. 

Gewalt üben   -  unterdrücken. In den Erzählungen des Exodusbuches werden diese Worte uns erneut begegnen: dort beschreiben sie, was Israel in Ägypten erdulden muss – bis ADONAI sich Israels erbarmt. 

Und so erlebt schon Hagar, was Israel ebenfalls erfahren wird:  ADONAI hört ihr Klagen. Er wendet sich ihr zu. 

Sie, die Sklavin, die Frau ist der erste Mensch in der Bibel, den ein Bote ADONAIs aufsucht. Und während Abram und Sarai von ihr nur als „der Sklavin“ sprechen und damit ihr unterlegene soziale Position hervorheben, nennt der Bote sie bei ihrem Namen. „Hagar“. Bei ADONAI gibt es keine Namenlosen.  Bei IHM hat Jede/Jeder einen Namen. 

Was folgt ist eine Verheißung, die Hagar, die Sklavin/die Frau quasi auf die gleiche Stufe stellt mit Abram, dem Erzvater: „Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können“, übersetzt Luther.

Hagar – die einzige Frau in der Bibel, der große Nachkommenschaft verheißen wird. Der Sohn aber, den sie gebären wird, wird Ismael heißen d.h.  „Gott hört“. Ein merkwürdiger Name für einen, dessen Nachfahren, wo immer von ihnen in der Bibel die Rede sein wird, nicht gut wegkommen: sie gelten als Unruhestifter und lästige Rivalen. 

Unvorstellbar, dass ADONAI, der Hörende, ausgerechnet diesem zugewandt sein sollte! Hier spiegelt sich wider, was nicht nur in biblischen Zeiten, sondern bis heute den Streit befeuert, zwischen Juden, Muslimen und Christen, wer denn der rechtmäßige Erbe Abrahams sei.

 „Sehen“ ist kein neutraler, kein wertfreier Akt, sagte ich. „Sehen“/“Anschauen“ bedeutet zu werten und zu bewerten. Unsere Ängste, unsere Hoffnungen, die Verletzungen, die man uns zugefügt hat, die Liebe, die uns zu teil wurde, sie prägen unser „Sehen“ und unser „Anschauen“. 

Und so verwundert es nicht, dass Hagar, den Gott, der sich ihrer in der Wüste annahm, den Namen gibt: „Du bist ein Gott, der mich sieht“. 

Dass ADONAI sie sieht/ansieht ist Ausdruck für eine Wertschätzung, die ihr Abram und Sara nie entgegengebracht hatten. Die Rückkehr zu beiden wird deshalb zu einer harten Prüfung, zur Probe darauf, ob Hagar dem vertrauen wird, der sie angesehen hatte. 

Was dann geschieht, wird einige Kapitel später erzählt. Sara, die um das Erbe fürchtet, fordert, dass Abraham Hagar und Ismael verjagen soll. „Das Wort missfiel Abraham sehr um seines Sohnes willen“, heißt es lapidar. 

Doch Abraham fügt sich in die „patriarchale Ordnung“, in der die Erbfolge streng geregelt ist. „Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulten, dazu den Knaben, und schickte sie fort“, übersetzt Luther. 

Wieder irrt Hagar durch die Wüste. Als sie kein Wasser mehr hat, wirft sie den Jungen unter einen Strauch. Warum hat sie sich nur auf all das eingelassen? Hatte sie als Sklavin überhaupt eine andere Wahl? Doch der Junge ist ihr Kind. Sie will, sie kann nicht ansehen, dass der Junge sterben wird. 

„Und sie setzte sich gegenüber und erhob ihre Stimme und weinte“. Und ADONAI bewahrt sie und ihr Kind ein weiteres Mal. „Ismael“ – „Gott hört“. „Steh auf, nimm den Knaben und führe ihn an der Hand; denn ich will ihn zum großen Volk machen“. 

ADONAI bekräftigt seine Verheißung. ER öffnet ihr die Augen, „dass sie einen Wasserbrunnen sah“. „Da ging sie hin und füllte den Schlauch mit Wasser und gab dem Knaben zu trinken.“ – „Und Gott war mit dem Knaben“.   

„Das System des Patriarchats ist ein historisches Konstrukt. Es hat einen Anfang und es wird ein Ende haben. Seine Zeit scheint zur Neige zu gehen, denn es dient nicht länger den Bedürfnissen von Männern und Frauen“, urteilte vor gut 25 Jahren die US-amerikanische Historikern Gerda Lerner, die Begründerin der „Women`s History“ 

Ein Blick – egal in welche Himmelsrichtung – läßt ihre Einschätzung heute vielleicht als zu optimistisch erscheinen.  Doch an den Weltgebetstagen und am Frauentag werden - Männer wie Frauen – alljährlich daran erinnert, dass überall auf der Welt Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung, ihr Recht auf Gestaltung ihres Lebens einfordern und in die Tat umsetzen.

„Du bist ein Gott der mich sieht“ – sagt Hagar.   „Sehen“ ist kein neutraler, kein wertfreier Akt. „Sehen“/“Anschauen“ bedeutet zu werten und zu bewerten. Unsere Ängste, unsere Hoffnungen, die Verletzungen, die man uns zugefügt hat, die Liebe, die uns zu Teil wurde, sie prägen unser „Sehen“ und unser „Anschauen“. Möge GOTT unseren Blick verändern – dass wir, erfüllt von seiner Gnade, unsere Mitmenschen anschauen wie er uns anschaut …und Recht verschaffen denen, die bedrängt, verfolgt, gedemütigt werden – egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe oder welcher Religion sie sind.

Amen.