Turmbau zu Babel
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Etwa 7000 Sprachen gibt es derzeit noch auf der Welt. Über die Hälfte davon sind gefährdet oder am Aussterben, 936 sind schon gestorben.

In Deutschland sind im Todeskampf das Niedersorbisch und das Saterfriesisch. Der kritische Wert liegt bei 500. Wenn weniger als 500 Menschen eine Sprache sprechen, wird sie voraussichtlich nicht überleben. In Nordamerika und in Australien sind besonders viele Sprachen ausgestorben.

Ich habe das alles neulich irgendwo gelesen, ich glaube zum internationalen Tag der Muttersprache und war zunächst betroffen, wie man das ja immer ist, wenn man lesen muss, dass was ausstirbt: Tierarten, Pflanzenarten, Sprachen. Aber dann dachte ich: Bei den Sprachen hat das doch auch eine gute Seite. Denn es ist ja nicht so, dass die Menschen dann verstummen, weil sie keine Sprache mehr hätten, sondern sie sprechen eine andere Sprache, eine, die von viel mehr Menschen gesprochen wird, in der man sich also mit viel mehr Menschen verständigen kann und das ist ja was Gutes.

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Die Geschichte vom Turmbau zu Babel kennt jeder. Sie erzählt, wie es dazu kam, dass die Menschen so viele Sprachen sprechen und so verstreut leben.

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

5Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6

Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!

So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.

Die Geschichte vom Turmbau zu Babel kennt jeder. Aber die Geschichten, die jeder kennt, sind gefährlich. Man merkt nur schwer, wenn man falsch liegt. Ich habe z.B. immer gedacht, Gott habe, weil ihm nicht passte, was er da sehen musste, den Turm zerstört. Hat er aber gar nicht. Steht nicht da. Er verwirrte nur ihr Sprache und zerstreute sie. Der Turm blieb stehen.

Überhaupt wird mir diese Geschichte, die mir immer so klar und prägnant erschienen ist, immer fraglicher. Teil der Urgeschichte, mythisches Menschheitsgut, das die Sprachenvielfalt erklären will. Und in der Adaption dieses Mythos in der Bibel Israels kam dann dieser wirklich weise - man könnte sagen: antitotalitäre - Gedanken hinzu, dass eine Einheitssprache, eine Einheitskultur, eine Einheitsgesellschaft in einer Stadt der Einheit mit einem Turm der Einheit und einem Einheitsnamen eine Macht entwickelt, die den Menschen nicht gut bekommen wird. Was stört Gott? Ihn stört nicht der Turm. Ihn stört, dass es ein Volk ist und sie nur eine Sprache haben. Das sind Leute, die nur eine Sprache verstehen. Die Ansage: „Die verstehen nur eine Sprache!“, lässt nichts Gutes verheißen.

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Pfingsten ist dann das Gegenstück dazu. Die Völker, aus Babel vertrieben, in Jerusalem angekommen, um in ihren vielen Sprachen die großen Taten Gottes zu verstehen.

Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. 2Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. 3Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. 6Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. 7Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? 8Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? 9Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, 10Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, 11Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. (Apostelgeschichte 2,1-11)

Pfingsten also ist das Gegenstück zur babylonischen Sprachverwirrung. Die Völker, aus Babel vertrieben, in Jerusalem angekommen, um in ihren vielen Sprachen die großen Taten Gottes zu verstehen.

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Aber stimmt das? Das mit Pfingsten stimmt schon irgendwie. Pfingsten war. Jedenfalls wurde seither die Bibel in 694 Sprachen übersetzt. Aber stimmt auch das mit Babel? War Babel schon? In grauen Vorzeiten? Oder liegt Babel in der Zukunft? Wird Babel erst noch? Überall auf der Welt. In Berlin – Babylon Berlin – vielleicht am wenigsten. Umso heftiger in fernen Ländern. Überall die Megastädte, überall strömen die Menschen in die Städte, überall werden diese Türme gebaut. Und in all diesen Städten und in all diesen Türmen kann man sich wunderbar zurechtfinden, weil alle eine Sprache sprechen: Englisch.

Der höchste Turm, der Burj al Khalifa, 828 m hoch, steht in Dubai. Mit Englisch ist das alles kein Problem mehr. Die amerikanischen Architekten reden Englisch mit den Englisch verstehenden indischen Bauarbeiter und die Lift Boys an den 57 Aufzügen auch. Ist also der Turmbau zu Babel ein urgeschichtlicher Mythos oder eine prophetische Ansage für das, was gerade geschieht?

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. ... Und sie sprachen untereinander: … Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

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Die Frage, ob urgeschichtlicher Mythos oder prophetische Ansage wird sich danach entscheiden, wie es in den Städten aussehen wird. Nicht wie ihre Türme aussehen, sondern wie ihre Menschen aussehen. Was wird Gott sehen, wenn er runterkommt nach Dubai oder Raid, nach Kuala Lumpur oder Singapur, nach New York oder Chicago? Die glitzernden Türme werden ihn nicht stören. Dass alle auch die Weltsprache Englische sprechen - auch daran wird Er kaum Anstoß nehmen. Denn gewisse antibabylonische Ideen wie Gewaltenteilung und Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenschutz, Vielfalt als positiver Wert, kommunizieren sich in Englisch besser als in Chinesisch, Arabisch oder Russisch.

Es gibt aktuell ein paar Städte, die sind babylonisch. Da soll nur noch ein Einerlei sein und die sollen einen Namen verehren. Pjönjang, die Hauptstadt Nordkoreas. Sie können dort auch Wohntürme bauen und betreiben Personenkult.

Hongkong steht unter besonderer Beobachtung. In dem Maße, in dem dort Englisch zurückgedrängt wird, wird auch die Demokratie zurückgedrängt. Honkong soll mit China vereinheitlicht werden.

Weniger bekannt, aber in gewisser Weise noch krasser oder noch babylonischer ist eine andere Stadt. Die Hauptstadt Kasachstans hat in den letzten 60 Jahren fünfmal den Namen gewechselt: von Akmolinsk, zu Zelinograd, dann Akmola, 6 Jahre später Astana und nun Nursultan. Nursultan ist der Vorname des kasachischen Langzeitpräsidenten Nasarbarjew. Besser kann man sich ja mit seiner Stadt keinen Namen machen als so.

Was wird Gott in den anderen Städten dieser Welt sehen, wenn er runterkommt, um sie sich zu besehen? Er wird nicht die Türme betrachten, er wird die Menschen beobachten und sehen, ob sie nur eine Sprache verstehen oder viele Sprachen? Und wie gehen sie mit denen um, die nur eine Sprache verstehen? Meinen sie, die verstünden eben dann nur die Sprache der Gewalt? Vertreiben sie sie oder geben sie ihnen Sprachunterricht?

Und noch etwas wird er sich anschauen. Gibt es in alle diesen Städten mit ihren Glitzertürmen Kirchen, in denen Christen aus allen Völkern unter dem Himmel Pfingsten feiern können, gibt es Moscheen, in denen Muslime aus allen Völkern unter dem Himmel Ramadan feiern können und gibt es Synagogen, in denen Juden aus allen Völkern unter dem Himmel Schawuot feiern können? Ohne dass Raketen fliegen und Bomben fallen und Steine geworfen werden.

Und wird Gott, wenn er runterkommt in diese Städte, um sie sich zu besehen, in ihnen ein Plätzchen für sich selber finden? Er braucht ja nur ein Zelt oder eine Hütte. Wenn er bleiben kann und selbst nicht vertrieben wird, dann wird wohl auch Er niemanden vertreiben. Und wenn Er der einzige ist, der kein Englisch spricht, sondern nur sein geliebtes Hebräisch und wenn sie das trotzdem dulden und nicht anfangen, komische Bemerkungen über ihn zu machen, dann, ja dann ist die Erzählung vom Turmbau zu Babel doch nur ein alter Mythos aus Gott sei Dank längst vergangenen Tagen, der nichts mit den heutigen Städten zu tun hat, wo nicht das Einerlei mehr die Menschen sammelt, sondern das Vielerlei.

Amen.