AG Aktion Sühnezeichen

Geliebte, ich schreibe euch kein neues Gebot, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Gleichzeitig ist das Gebot, das ich euch schreibe, neu. Es ist in Jesus und in euch verwirklicht, denn die Dunkelheit vergeht und das wahre Licht scheint schon. Alle, die sagen, dass sie im Licht seien, und dennoch ihre Geschwister hassen, sind immer noch in der Dunkelheit. Die ihre Geschwister lieben, bleiben im Licht und durch sie kommt niemand zu Fall. Die aber ihre Geschwister hassen, sind in der Finsternis und wandeln in der Finsternis. Sie wissen nicht, wohin sie gehen, denn die Finsternis hat ihre Augen verblendet.

Eine Weisung, die ihr von Anfang an hattet, schreibt der Briefschreiber. Sein Brief beginnt mit den Worten: was von Anfang an war. Das Johannesevangelium, mit diesem Brief verwandt, mit den Worten: Im Anfang. So beginnt auch die Bibel: im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Da ist von Tohuwabohu die Rede, von Chaos und Finsternis. Im Anfang war das Wort. Das erste Wort Gottes, sein erstes Gebot ist: es werde Licht. Er hat Israel geschaffen und befreit als Licht der Völker, Licht der Welt. Israel hat den Bund oft gebrochen. Gerade als treuloser, hartnäckig unzuverlässiger Bundespartner klärt dieses Volk auf über die Treue seines Gottes. Bisweilen ist es nur ein glimmender Docht und doch Licht im Finstern. Die Finsternis hat es nicht ergriffen.

Und das Wort wurde Jude – das Wort, das von Anfang an war. Die Finsternis weicht, das wahre Licht – das treue, das verlässliche Licht – scheint. Es ist wahr in ihm, weil er es bewährt. Dies Licht ist Liebe, ist Gemeinschaft, Solidarität. Es ist die Liebe Gottes, die erschienen ist. Nicht wir haben Gott geliebt, sondern Gott hat uns geliebt und seinen Sohn gesandt. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt, sagt Jesus; und: wir müssen wirken, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.

Die Finsternis ist nicht gewichen. Die Völker erwiesen sich als lichtscheu. Das Licht ist in die Welt gekommen, in die bestehende verkehrte Weltordnung, doch Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, waren solidarische Bundesgenossen der Finsternis, denn ihre Taten waren böse. Wer seinen Bruder, seine Schwester hasst, ist noch immer in der Finsternis. Und das macht blind. Wer seine Geschwister hasst, ist in der Finsternis, wandelt und handelt in der Finsternis, weiß nicht, wohin er geht. Denn die Finsternis macht seine Augen blind. Eine Halacha des Tohuwabohu – Massenmord aus Verblendung.

Die Finsternis weicht, das wahre Licht scheint schon, heißt es in unserem Text. Angesichts der Verbrechen, derer wir heute gedenken, befürchten wir, dass es umgekehrt ist: Das Licht schwindet, wurde ausgelöscht, wird ausgelöscht – Finsternis bedeckt die Erde, Dunkel die Völker. Was von Anfang an war, ist nun fraglich; das Wort, das im Anfang war, das Wort: Es werde Licht, das Wort, das Jude wurde, zum Schweigen gebracht, mundtotgemacht – totgemacht. Der Anfang, das Prinzip ist gebrochen. Wir sind im Chaos, im Tohuwahohu – Irrsal und Wirrsal, wüst und leer. Wir tappen im Dunkeln, im Schatten des Todes, wissen nicht, wohin, nicht einmal, wo lang wir gehen.

Und doch

wir hoffen, wir setzen auf das, was im Anfang war – wenn auch zaghaft und hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen –: das Wort des Lebens.

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Wer sagt, er sei im Licht und hasst seine Geschwister, ist noch in der Finsternis. Das wahre Licht – es ist das Licht einer neuen Gemeinschaft: Keine Trennungslinie mehr zwischen Israel und den Völkern. Alle haben teil an den Verheißungen Israels und der Weisung seines Gottes. Licht hätte aufgehen können in der Völkerwelt, wenn die Christusbegeisterten das verstanden hätten.

Ob die Gemeinde damals, an die sich der Verfasser des 1. Johannesbriefs wendet, es verstanden hat? Gestritten hat sie ja vermutlich mit denen, die an den Messias Jesus nicht glauben wollten. Diese Nichtgläubigen waren für sie die Unerleuchteten. Ob sie verstanden hat, was ihr hier gesagt wird: Ihr selbst bleibt im Dunkel, ihr verdunkelt das Licht Christi, wenn ihr euch nicht mehr mit denen verbunden wisst, denen ihr euer Glaubendürfen doch verdankt?

Gewiss ist: Die Kirche hat es nicht verstanden. Sie hat ihr Licht behauptet, indem sie das Judentum in den finstersten Schatten drängte – hat ihm seine Verheißung geraubt, jegliche Verwandtschaft bestritten. Kein Geschwisterstreit mehr, nur selbstherrlich alleiniger Wahrheitsanspruch. So ist die Christenheit im Finstern getappt: immer wieder gewalttätig, hochmütig, verlogen, beirrbar in ihrer Lehre. In den Abgrund der Finsternis schauen wir im Gedenken an die Schoah.

Und können gerade darum ja gar nicht anders, als uns nach dem Licht sehnen – können nicht leben ohne das unverschämte Vertrauen, dass es immer noch gilt: Gottes Liebe und Treue auch für uns. Gottes Reich, das kommt.

„Wir haben vornehmlich darum noch immer keinen Frieden, weil zu wenig Versöhnung ist. Dreizehn Jahre sind erst in dumpfer Betäubung, dann in neuer angstvoller Selbstbehauptung vergangen. Es droht, zu spät zu werden.“ So sagte es Lothar Kreyssig im Gründungsaufruf der Aktion Sühnezeichen. Das war 1958. Dumpfe Betäubung, angstvolle Selbstbehauptung – sind das nicht die Versuchungen der Kirche auch jetzt noch? Auch wenn sich Christinnen und Christen inzwischen zumeist davor hüten, direkt antijüdisch zu argumentieren – von ihrer Überlegenheit sind sie immer noch überzeugt. Nicht zu zählen wohl die Gemeindegespräche, die sich auf die Politik Israels fokussieren – empörungsgeladen. Zu spüren oft genug die Befriedigung, nun aber doch Israel ganz zurecht anklagen zu dürfen. Das Recht, im Recht zu sein, lassen wir uns in der Kirche immer noch nicht gern nehmen. Wann mag die Finsternis weichen?

Ich wünsche mir eine demütige Kirche. Eine demütige Kirche ist nicht ängstlich, wenn es um politische Klarheit geht. Eine demütige Kirche – es wäre eine Kirche, die den Blick in den Abgrund nicht überspringt. Eine Kirche, die weiß, wie leicht sie immer wieder der Versuchung von angstvoller Selbstbehauptung und dumpfer Betäubung erliegt. Eine Kirche, die sich nicht so sicher ist, über Gottes Licht schon immer Bescheid zu wissen.

Eine demütige Kirche – sie sollte sich daran erinnern, wie das Liebesgebot wirklich lautet und dass es für Juden und Christen gleichermaßen mit der Liebe zu Gott beginnt – der Liebe zum Gott der Bibel, dem Gott des Rechts und der Gerechtigkeit, dem Gott, der seinen Bund zuerst mit Israel geschlossen hat. „Du sollst den Herren, deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft.“ Den Gott, den wir so unkenntlich gemacht haben, indem wir sein Volk in die Finsternis verstießen, herbeilieben – ihn suchen, auf seine Weisung hören, sein Dasein herbeisehnen: mit ganzer Seele, ganzem Denken, ganzer Kraft – das mag uns das Licht ahnen lassen. Uns vor Irrtum schützen.

Ich wünsche mir eine demütige Kirche und denke auch an einen Satz, den ich bei Martin Buber gefunden habe, in seinem Aufsatz „Zwiesprache“: „Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch hat sich geändert ... Es ist die Nacht des Harrens – nicht einer vagen Hoffnung, sondern des Harrens. Wir harren einer Theophanie, von der wir nichts wissen als den Ort, und der Ort heißt Gemeinschaft.“ (Martin Buber, Zwiesprache S. 148)

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Liebe und Hass stehen sich gegenüber. Wir wollen lieben. Dennoch erleben wir Hass: In uns, um uns herum. Wer liebt kann nicht hassen. Wer hasst liebt nicht. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dualismus?

Gar zu einfach wäre es, sich nur im Licht zu wägen, sich einer uferlosen Liebe zu verschreiben. Ganz schnell landen wir dann in einer vertrottelten Welt, die nur das Gute sieht, das Böse und Hasserfüllte einfach wegdrückt und sich in weiche Wohlfühlsofakissen fallen lässt. Wäre das denn überhaupt noch Liebe? Wäre das nicht eher Wellness?

Es gibt Hass. Wie lieben wir, ohne treuherzig arglos gegenüber diesem feindseligen Hass zu sein? Dieser Hass greift uns und auch unsere Geschwister an: Wer hasst, ist innerlich fragil. Wer hasst, ist sich seiner selbst nicht sicher. Wer hasst, schätzt sich selbst nicht wert und wertet darum andere ab. Wer hasst, hasst die Existenz des anderen und will den anderen vernichten. Wer hasst, sucht Sicherheit, indem er das innere Unvermögen nach außen kehrt und andere Menschen verantwortlich macht.

Gibt die Bruderliebe des Johannesbriefs uns eine Antwort darauf, wie wir damit umgehen können? Worüber wir uns sicher sein können: Wer Gott liebt, liebt seine Brüder. Liebe für den Bruder heißt auch, die eigenen Geschwister vor Feindseligkeit zu schützen. Liebe macht dumm, wenn sie selbst auf diejenigen gerichtet wird, die sich dem Hass verschrieben haben.

Gibt es nicht auch Liebe ohne Grenzen, die sich schuldig macht? Es gibt Brückenbauer, die Brücken für diejenigen bauen, die nicht darüber gehen werden. Es gibt Gräben, die tief bleiben werden. Hass will andere verdunkeln, schwärzen, auslöschen, um ganz allein für sich rechtzuhaben. In hasserfüllten Kontexten macht scheinbare Sanftmütigkeit nicht selig. Es handelt sich dann nicht um Sanftmut, sondern um mangelnden Mut: Einem wilden, hassenden Menschen klar mitzuteilen, dass sein Verhalten abscheulich ist, erfordert Mut. 

Das Fühlen von Abscheu ist notwendig. Die eigene innere Grenze gegenüber dem Hass zu spüren, die eigene Empörung zu spüren, ist notwendig, um sich dem Hass kämpferisch entgegenzustellen. Eine Dämonisierung von Hass macht es sich zu leicht: Der Dämon Hass lässt mich meine eigene Grenze erkennen. Ein Überlebender der Schoa darf die Täter hassen.

Wer Hass dämonisiert, nimmt sich selbst aus der Verantwortung: ich brauche nicht empathisch und mitleidig mit dem Hassenden sein. Wenn Menschen sich unmenschlich verhalten, will ich leidenschaftlich abweisend sein. Mein Mitleid in solchen Momenten ist lediglich ein Mangel an Klarheit. Mitleid mit den Umständen des Hassenden verweist auf mich selbst zurück: meine eigene Verletztheit blitzt im hassenden Gegenüber auf. Ich erkenne in seinem Hass seine Unsicherheit, die er brutal nach außen kehrt. Ich fühle, dass ich selbst diese Unsicherheit habe, und bekomme Mitleid. Nur: Mitleid hilft hier nicht, nur Klarheit. Es geht ja um die Sache und nicht um Gefühle.

Diese Klarheit ist Güte. Leidenschaftlich Grenzen aufzeigen, wo Menschen über den Bruder spotten. Unliebsam gegenüber den Hassenden zu sein, ist heilsame Selbstbegrenzung. Es sind Begrenzungen, die notwendig sind, um unnahbar zu sein für jene, die aus Prinzip hassen. Hass ist ein starkes Wort und ist ein starkes Gefühl. Es braucht Stärke, um sich abzugrenzen. Es braucht Entschiedenheit, um diejenigen abzuweisen, die unsere Geschwister hassen.

In Psalm 139 steht:

Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen? Ich hasse sie mit ganzem Herzen; sie sind mir zu Feinden geworden. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne, wie ich´s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Weg bin und leite mich auf ewigem Weg.

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Geliebte, ich schreibe euch keine neues Gebot, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. Gleichzeitig ist das Gebot, das ich euch schreibe, neu. Es ist in Jesus und euch verwirklicht, denn die Dunkelheit vergeht und das wahre Licht scheint schon.

Diese Gleichzeitigkeit von alt und neu ist verwirrend und doch so zentral wie selten verstanden für das christliche Verständnis von unserer gleichzeitig jüdischen und christlichen Bibel. Denn das Alte ist im Neuen immer präsent, die Gebote bleiben im Neuen ganz die alten. Ohne die Verheißungen der Hebräischen Bibel, des Alten Testaments, wüssten wir ja nicht, was das Neue, das Messianische für uns Christ*innen bedeuten könnte. Alle inhaltliche Füllung christlicher Praxis geht neutestamentlich von den Glaubenserfahrungen und Verheißungen Israels aus. Warum ist es so schwer zu verstehen, dass dieses „Wesen des Christentums“ nicht bedeuten darf, das Alte zu denunzieren oder gleichsam chronologisch als das Vergangene oder Verworfene zu erklären? Die Adventsgeschichte lebt von alttestamentlichen Verheißungen und Parallelisierungen: die Flucht nach Ägypten, der Kindermord, die Völker, die in Gestalt der Besucher an der Krippe ihre Knie beugen und so weiter. Also nichts Neues unter Gottes Sonne und Mond?

Im ersten Johannesbrief sind die alten Gebote neu ins Herz, ins Innere gelegt und belegen dies durch die Liebe, die die Angesprochenen ihren Geschwistern angedeihen lassen. Das verweist uns wieder an das Alte Testament einerseits als Quelle der Gebote der Nächstenliebe und Fremdenwertschätzung, andererseits als Bild des Jeremia für das ins Herz legen des neuen Bundes, der inhaltlich ganz der alte ist.

Das Liebesgebot ist im Judentum wie auch nicht nur bei Paulus die Quintessenz der Thora, die „durch das ganze Gesetz hindurchgeht, das von Liebe durchdrungen ist in allen seinen Äußerungen“, wie der Rabbiner und Gelehrte jüdischer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, Abraham Geiger, sagt. Dieses Liebesgebot fächert sich auf in die Zehn Gebote und viele weitere Lebensorientierungen, im rabbinischen Judentum in 613 Gebote.

Aber was sagt mir das über das Neue? Ja, es gibt Neues, das aber ohne das Alte und den Dialog mit dem Alten, das durch die Zeiten uns zum Geschwist geworden ist, gar nicht zu beschreiben ist. Das Neue ist ganz sicher die Hinwendung des Gottes Israels zu den Völkern. Das Neue wäre in dieser Perspektive dann die übergreifende Geschwisterschaft und die Liebe der Völker zu Israel zunächst gedacht in einer Gemeinde aus Juden und Christen, der Abbau der Trennungen, der leider historisch sich in sein Gegenteil verkehrte. 

Das Neue wurde vergötzt und das Alte funktional zugerichtet integriert und dessen Träger*innen im wahrsten Sinne verteufelt. Der 27. Januar führt uns diese mörderische christliche Weigerung, das Alte im Neuen, das Alte nicht als Vergangenes, das Neue im Alten wertschätzend zu leben, vor Augen und in unsere Köpfe und Herzen. Nur von da aus können und dürfen wir umkehren Dann mag die Finsternis weichen. Wir erkennen die anderen und dann auch uns in neualtem Licht – langsam vergeht die Dunkelheit? Liebe?

Amen.