Pfr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs

1. Kuss oder nicht Kuss?
Die verflixte Pandemie wirkt sich bei vielen auch so aus, dass sie mehr als sonst schlafen, so eine Art depressive Müdigkeit empfinden. Die Jünger Jesu haben so etwas auch erlebt. Während Jesus im Garten Gethsemane betete, schliefen seine Jünger „vor Traurigkeit“. Jesus schimpfte darum mit ihnen.
Und 47 als er noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. 48 Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?
Und ich dachte immer, Judas hätte Jesus tatsächlich geküsst. Aber dazu ist es vielleicht gar nicht erst gekommen, glauben wir dem Lukas (diff. Mk 14,45//Mt 26,49). Von allen Szenen des Jesus-Dramas, das Lukas und die anderen Evangelisten erzählen, ist das die wohl abgründigste Szene: Spätabends an einem Donnerstag im Park am Fuße des Ölbergs in Jerusalem. Judas hatte sich, während die anderen schliefen und Jesus betete, davongeschlichen und – sagen wir: – am Eingang zum Park die Leute abgeholt, mit denen er tags zuvor über Jesus gesprochen hatte. Judas kommt nun auf Jesus zu, hinter sich jene Gestalten, mit Stangen in den Händen und Lanzen. Bewaffnet also und doch unsicher, was jetzt passiert. Wie gut, dass dieser Judas vorangeht, denken einige von ihnen. Die Brutalen und Rücksichtslosen sind oft nicht die Mutigsten, das ist heute noch so.
Judas, nun stehst du vor Jesus, in deinem Rücken diese bewaffneten Männer. Den herzlichen Kuss zwischen Freunden zur Begrüßung, den respektvollen Kuss zur Anerkennung des Meisters würdest du dir selbst nicht glauben, er wäre eine infame Geste. Du bist darum wohl froh, dass es gar nicht dazu gekommen ist. Aber als Jesus dich anspricht, da klingt dein Name in deinen Ohren schrill und in deinem Herzen spürst du einen Stich wie nie in deinem Leben.
Jesus nimmt deine böse Sache selbst in die Hand, spricht den Verrat an und den Kuss. Er will nicht, dass du verrätst, was du liebst, wozu du aufsiehst, wovon du lebst, woran du glaubst, worauf du hoffst, Judas. Diesen Kuss, der alle unsere Küsse vergiften würde, hast du ihm wohl gar gegeben.
Jesus verhindert die Beleidigung von Freundschaft und Nachfolge. Das tut er für dich, für die anderen Freunde und Nachfolger, die noch die letzten Schritte und Stunden mit ihm gehen werden. Und für mich. Auch mir verdirbt judasmäßig das Verhältnis zu Jesus, aus Nachfolge kann Verrat werden. Zeige dich endlich, Jesus, als der Mensch von Gott!, dränge ich ihn. Aber Jesus fordert Geduld von meinem Glauben, er lässt nicht zu, dass ich mit meinen Vor-stellungen über ihn sein eigenes Wirken überforme.

2. Dreinschlagen oder nicht dreinschlagen?
49 Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? 50 Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab.
Sollen wir zum Schwert greifen und zuschlagen? So fragen wir, wenn wir wie Jesu Jünger „vor Traurigkeit“ in den Schlaf gefallen sind, herausgerissen werden und sehen, dass die Lage heikel ist. Da sind sie zur Gewalt bereit – und wir? Aggression zeigt aber immer Hilflosigkeit und Verzweiflung. Auch das ist heute noch so. Wir sehen das in den hitzigen, unsachlichen Diskussionen zu den Corona-Maßnahmen.
Als Dozent in der Pfarrerausbildung habe ich gelernt, dass wir unsere Aggressionen annehmen müssen, sie wahrnehmen, um verantwortlich mit diesen Anteilen unserer Persönlichkeit umzugehen, uns zu steuern. Wie es ihrem Selbstbild als künftige Pfarrer und Pfarrerinnen entspricht, gaben sich nicht wenige Vikar/innen als aggressionsfreie Engel. Die sie aber nicht sind, nicht sein können, auch gar nicht sein sollen. Die verleugnete Aggression wirkt sich dann in heiklen Situationen umso stärker und verhängnisvoller aus. Das scheint mir bei den Jüngern hier auch so zu sein – auch sie sind keine Engel. Immerhin fragen sie zunächst Jesus. Nur, dass sie nicht auf seine Antwort warten. Sie alle sind aggressiv, sie alle fragen, aber nur einer schlägt zu. Das machen wir ja auch ganz gerne: jemand anderen unsere Aggressionen ausagieren lassen. Wen lassen wir für uns zuschlagen? Schon den, über dessen böses Wort wir uns klammheimlich freuen?
Was uns gut anstünde, wäre wenigstens dies: Jesu Antwort abzuwarten. Bei offenen Fragen, bei schwierigen Fragen zu Schwertern und anderem grobem Gerät sorgfältig und geduldig zu fragen: Was würde Jesus dazu sagen? Darüber lange nachzudenken im Glauben, ist wohl schon immer ein wichtiger Schritt, um zu unterlassen, was gewalttätig und gefährlich ist und töricht.

3. Ohr oder nicht Ohr?
50 Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. 51 Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn.
Ich hörte diesen Jesus schon reden, bevor wir ihn noch im Dunkeln sehen konnten. Seine Stimme klang irgendwie traurig. Das Wort „Anfechtung“ hörte ich noch heraus. Eindringlich redete er mit seinen Leuten, einige lagen, andere hockten auf dem Boden. Gottlob waren sie uns an Zahl unterlegen, so zehn oder elf mögen sie gewesen sein. Dazu noch dieser Judas, der uns zu ihm führte. Und dann ging es ganz schnell: Kaum hatten die beiden sich begrüßt und ein, zwei Sätze gewechselt, gab es einen Tumult unter seinen Leuten. Und da blitzte schon ein Schwert über mir auf. Ich spürte keinen Schmerz, merkte aber, wie mir Blut am Hals hinun-terrann. Ich fasste an meinen Kopf: Wo mein rechtes Ohr hätte sein sollen, war eine Wunde. Und nun überkam mich mit dem Zorn der Schmerz! Würde ich überleben? Und wie sähe ich nun aus: verunstaltet am Kopf! Und wie würde ich künftig hören können? Ich schaute dem Mann mit dem Schwert ins Gesicht: eben noch verzerrt, nun erstarrt, nachdem sein Meister dazwischen gegangen war. Und wo vor Sekunden noch das Schwert zugeschlagen hatte, berührte jetzt die Hand dieses Jesus mein Ohr. Wärme fühlte ich, ohne dass Blut lief. Ein Rauschen hörte ich, wie wenn ich sehr aufgeregt bin. Als ich mir ans Ohr fasste und dabei noch Jesu Hand streifte, … ihr braucht es nicht zu glauben, ich konnte es da auch nicht begreifen. Später erfuhr man ja noch einiges von diesen Jesus-Leuten, die glaubten, dass ihr Meister auferstanden sei, drei Tage nachdem er hingerichtet worden war. Und diesen Jesus-Leuten war wichtig, auf Gottes Wort, das Jesus verkündete, zu hören. Auch erzählten sie von Wunderheilungen, wie ihr Jesus tauben Menschen das Gehör gab (Mk 7,31-37; vgl. Mt 11,5//Lk 7,22). Ich musste mir da immer an mein Ohr greifen und ich verstand: Wer in Jesu Nähe ist, soll ihn hören. Wo Jesus ist, können Menschen hören. So wie ich damals ihn hören können sollte mit geheiltem Ohr. Und dann fiel mir auch noch ein Ohren-Wort aus dem vierundneunzigsten Psalm ein, das Vertrauen und Hoffnung für unsere Gebete wecken soll: „Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören?“ (Ps 94,9) Jesus hatte mich gehört, bevor aus meinem Wimmern Worte werden konnten.

4. So mag der einzige Mensch der Weltgeschichte, der für einen Augenblick nur ein Ohr hatte, gedacht haben. Und gehört hat er dann, wie
52 Jesus sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältes-ten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? 53 Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.
Spätabends an einem Donnerstag im Park am Fuße des Ölbergs in Jerusalem – keine harmlosen Nachtschwärmer sind da unterwegs, sondern Bösewichter. Sie ergreifen gar nicht erst das Wort. Jedes Wort aus ihrem Mund wäre eine Lüge. So wie die ganze Aktion eine Lüge ist: Als müsse man Jesus nachts verhaften und das mit einem großen und bewaffneten Kommando! Wie einen gefährlichen Dieb, der die Dunkelheit bevorzugt. Aber Jesus scheut den Tag nicht und nicht den Tempel mit der Öffentlichkeit. Die anderen sind es, die im Dunklen kommen, weil nicht recht ist, was sie tun. Spätabends an einem Donnerstag – das ist die Stunde, die ihnen entspricht mit ihrem finsteren Vorhaben. In der Begegnung mit Jesus zeigt sich, wer sie sind und wer auch wir sind: Menschen, die eine Station auf Jesu Weg ans Kreuz sind, die dahin geraten, wo dreingeschlagen wird. Und ein Mensch bist du, den Jesus heilen wird. Hörst du?
Amen.