Pfr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs

Meine Arbeitswoche beginnt mit einer Mail, die ich meinem Kollegen schicke: die Anlage enthält meine Predigt vom Sonntag und soll auf der von ihm betreuten Website veröffentlicht werden. Hach, ein gutes Gefühl, dass die eigene geistliche Rede dadurch mehr Menschen er-reicht als tags zuvor im Gottesdienst waren, als jetzt hier sind. Auch mit dieser Rede, die ich gerade jetzt im Munde führe, geschieht das morgen. Wäre ja auch schade darum: Wieviel Mühe mich meine Reden immer kosten! Mit diesem zugegebenermaßen larmoyanten Satz stimme ich ein in einen biblischen Seufzer:
„Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als In-schrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“
Dass das Internet ein flüchtiges Medium ist und kein Felsen, ist leicht zu verschmerzen. Wohl nicht „für immer“, aber doch eine lange Zeit und von vielen Menschen weltweit kann meine Rede digital gelesen werden. Toll! [Pfarrereitelkeit ist schon schlimm. Das macht sich ein Verlag mit dem passenden Namen „Fromm-Verlag“ zu Nutze, der einmal jährlich alle Pfarrer/innen anschreibt, ob sie nicht ihre Predigten veröffentlichen möchten. Ich fühle mich dann immer ertappt, widerstehe aber und sehe: einige Kollegen (fast alles Männer) machen das sogar – was aber doch ein bisschen peinlich ist. Wir verzichten aus Pietätsgründen jetzt da-rauf, in dieser Angelegenheit in die Geschichte unserer Gemeinde und ihrer veröffentli-chungsfreudigen Pasteurs zu sehen …]
„Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als In-schrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“
Das sagt denn auch kein großer biblischer Redner; davon gibt es übrigens gar nicht viele, wenn schon Mose und Paulus abstreiten, dass sie solche wären. Offenbar braucht Gott keine großen Redner. Den Seufzer mit der aufzuschreibenden Rede sagt jemand, der hadert und klagt, was sprachlich oft nicht schön ist: Hiob. Wir hören seine Rede in Kapitel 19:
"19 Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. 20 Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. 21 Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! 22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? 23 Ach dass meine Reden auf-geschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, 24 mit einem ei-sernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! 25 Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. 26 Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. 27 Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust."

Was bleibt von deinem Kummer, von deinen Achs, von den Klagen, den immer wiederholten, den mitten im Satz abgebrochenen Klagen? Sang- und klanglos verhallen sie. Niemand, der nicht neben dir steht, hört, was du noch zu sagen hattest, als es dir eigentlich die Sprache verschlug.
Der Hiob-Seufzer ist vielleicht mit einem Augenzwinkern zu lesen, das die tragische Geschichte hier ein bisschen heiter, damit erträglich macht. Denn die Hiob-Reden sind ja aufgeschrieben worden, in den Fels der Weltliteratur gehauen und auch heute noch lesbar, in Sinn und Emotion zu entziffern, nachzusprechen. Nachzulesen und nachzusprechen alle seine Achs und Warums und Sonicht und Ogottogotts. Und wer das nachliest und nachspricht, der muss dann wohl gerade diesen Satz eben nicht mehr seufzen:
„Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als In-schrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“
Unser Schmerz ist schon aufgeschrieben auf dünnem Papier und ausgesprochen vor Gott: bei Hiob und bei seinem Bruder, wenn ich es so sagen darf, bei seinem Bruder Jesus, unserem Bruder. Unsere Leidensworte und unser Schmerz. Nicht behoben, aber aufgehoben sozusagen – in diesem frommen Seufzer.
Ob Jesus diesen Wunsch kannte? Wohl nicht der Jesus, der seinen Freunden und anderen auf einem Berg in Galiläa mit Vollmacht predigte – ich hoffe, diese Eitelkeit war ihm fremd. Aber der Jesus der bedrängten letzten Tage, der furchtbaren letzten Stunden, der kannte diese Verzweiflung doch, die Steigerung des Leids, wenn einem Menschen bewusstwird, dass sein Schrei ungehört verhallt, die Erzählung seines Lebens nicht erzählt und nicht geschrieben wird. Ist ihm da der Seufzer Hiobs durch den Kopf gegangen und durchs Herz? „Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Und die Geschichte meines Leidens auch.“ Wie bei Hiob wäre dieser Jesus-Seufzer wahr geworden durch Markus und die anderen. Da können wir lesen, was Hass und Dummheit und Engherzigkeit anrichten können, was geschieht, wenn die Sünde tobt. Und wie Gott diesen Menschheitsmakel in seine Hand nimmt, um ihn aufzu-heben, wie Gott Leid und Tod auf sich zieht, um uns davon zu befreien.
„Ach, dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“
Ein Seufzer des Leids. Darum ist es auch eine Tat der Gerechtigkeit und der Liebe, wenn wir die Namen derer, die durch Gewalt und Krieg ausgetilgt wurden, „mit eisernem Griffel“ schreiben, „in Fels hauen“, mit Blei die Buchstaben füllen – wenigstens ihre Namen, das eine oder andere Datum noch, ein Ort, wenn schon nicht ihre Geschichte und ihre Reden. Das kann kaum verwittern und ist Jahrhunderte lang/später zu lesen. Lese ich solche Nachrichten aus früheren Zeiten, über Menschen, die schon lange tot sind, berührt mich das oft sehr. Ich ver-mute, das ist so, weil diese Menschen mir mit ihren Lebensumständen und mit ihrem Leid dann eigenartig näher sind, als es der zwischen uns vergangenen Zeit entspricht.
Das ist bei Hiob auch so, diese Nähe, obwohl er im fürchterlichen Unmaß seines Leids weit weg von mir ist: Ich habe nicht meine Gesundheit verloren, meine Habe, mein Haus, meine Kinder, das Vertrauen ins Leben und alle Hoffnung. Aber wie Hiob sein Leid deutet, damit rückt er mir ganz dicht auf die Pelle, auf die Seele. Hiobs Lebenserfahrung: Eingespannt in die Generationen vor mir, Jahrhunderte, Jahrtausende vor mir und Jahrmillionen, eingespannt in die Ewigkeit vor mir und meiner Welt, und dem unvorstellbaren offenen Raum nach mir, ist mir ein Wimpernschlag Leben gegeben. Das möchte Hiob genießen, wenigstens in Ruhe leben können – ist das denn zu viel verlangt? Stattdessen bedrängt ihn der ewige Gott. Ihn beschleicht der ungeheuerliche Gedanke: Mit aller Zeit und allem Guten wird ja auch das Schlechte vom ewigen Schöpfer kommen. Aber er will damit einverstanden sein: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Das sagt Hiob am Anfang. Aber dann wird es immer schlimmer und dauert immer länger – wir kennen das, und wenn nicht, erfahren wir es in diesen Monaten. Da kann sich der Glaube einspinnen – obwohl: ich habe von einer Studie gelesen, dass die Pandemie in England zu einem gewissen Aufschwung des Glaubens geführt habe, dass Menschen von sich sagen, stärkeres Vertrauen in Gottes Führung und Fürsorge zu empfinden. Die Worte und das Zuhören in der Kirche seien ihnen wichtiger geworden. – Die Kirche finden wieder mehr Beachtung. Aber es ist wohl oft anders: In Zeiten des Leids kann sich der Glaube einspinnen wie bei Hiob, von Krankheit so geschlagen, dass nur das „nackte Leben“ bleibt, und einsam unter den Freunden, deren hilfloser Trost und bohrende Sinnfrage ihn zusätzlich peinigen: Hiob, überlege und sei ehrlich: Was hast du getan, dass Gott dich so straft? Nun soll also der Leidende selbst im Leid einen Sinn suchen! Leid an sich ist aber immer sinnlos, die Sinnlosigkeit ist ja gerade eine seiner schmerzlichen Seiten. Hiobs Armut und Krankheit verbieten vielmehr eine religiöse Erklärung und Überhöhung (solche Versuche hat es in der Geschichte des christlichen Glaubens immer wieder auch gegeben), Armut und Krankheit – beides will Gott nicht, wir sollen dagegen beten und arbeiten.
Wie kommt Hiob von dieser dunklen Gotteserfahrung zum Vertrauen auf Gott, der sich erbarmt und mein „Erlöser“ ist? Wie kann Hiob sagen: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben.“
Hoffnung kannst du nicht begründen oder aus dem Lauf der Welt ableiten, sonst wäre die Hoffnung nur eine Prognose, eine Hochrechnung, mit der du dir selbst Mut machen willst. Darum ist das ein in die Klage hineinschlagender Satz, ein herausreißender Glaube: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“ Hiob ist hier nicht der Asket, der das Leid überwinden will, nicht der Philosoph, der das Leid widerlegen will, sondern der Mensch vor Gott, der eine Ahnung davon hat, dass das Leid nicht endgültig ist, nicht letztgültig. Der grimmige Gott, dem er mit der Asche auf dem Haupt sein Leid klagt, verwandelt sich in den Gott, der sich „über dem Staub erhebt“ und seinen Menschen mitnimmt. Nicht Hiobs Welt und unsere ändert sich, sondern Gott. Hiob kommt von Gott her zu Gott:
„Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder.“
Das ist Hiobs neuer Lebensmut. Er lebt davon, dass er Gott einmal begegnen wird, in seiner Nähe leben. Er weiß das und er spürt das: „Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.“ Der Seufzer ist verwandelt in Sehnsucht.
„Ich weiß, dass mein Erlöser lebet.“ – Selig, wer das sagen kann. Und selig auch, wer das singen kann, singen lassen kann wie Georg Friedrich Händel in seinem „Messias“: Nach Jesu Tod und Auferstehung im zweiten Teil des Oratoriums singt dieses große Vertrauenswort der Sopran als Stellvertreterin unserer Seele: „I know that my redeemer liveth.“ Händel wagt solches Vertrauen, indem er Ostern dazunimmt (Hiob 19,25 mit 1Kor 15,20 kombiniert): Das Leben des Erlösers ist seine Auferstehung. Das ist ein Leben, das durch den Tod hindurchge-gangen ist, ein Leben, das vom Leid nicht widerlegt wird. „I know that my redeemer liveth.“ Ein Bekenntnis ist das und eine ganze Predigt. Darum endet diese Predigt jetzt schleunigst und wir hören – ohne Worte – jene Musik.
Amen.