Lebensbestimmungen
Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

Was bestimmt mein Leben? Warum verläuft mein Leben so und nicht anders? Ist alles vorherbestimmt oder gibt es Spielräume? Fügt sich eins ins andere wie von Zauberhand oder kann ich mein Leben selbst in die Hand nehmen und regeln? 

Was bestimmt mein Leben? Der Zufall? Das unergründliche Spiel der Moleküle? Der Lauf der Sterne? Ein launischer Gott? Ein geheimer Plan, vor ewigen Zeiten geschmiedet? Die Algorithmen einer künstlichen Intelligenz? Oder ich selbst? Wer oder was bestimmt mein Leben?

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Wie die meisten Menschen auf dieser Erde spürte auch Josef allzu deutlich, dass er seinen Lebensweg nicht selbst bestimmte. Josef, der Mann von Maria, der Vater von Jesus. Aber selbst dieses konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Es gab einen höheren Plan – ja, man kann ohne weiteres sagen: einen allerhöchsten Plan. Doch davon wusste er nichts. Diesen Plan kannte nur der Erzähler des Lebens seines Sohnes, der damit auch der Erzähler seines eigenen Lebens war, jedenfalls solange sein – Josefs – Leben mit dem seines Sohnes verknüpft war. Der Evangelist Matthäus kannte den Plan und enthielt ihn uns, den Lesenden und Hörenden, nicht vor. Nur Josef selbst, so dürfen wir vermuten, wusste nichts davon. 

Hier ist, was Matthäus über die Lebenswegbestimmungen des Josef zu berichten weiß, als sein Sohn – oder sagen wir vorsichtiger: der Sohn seiner Frau – noch sehr klein war:

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Als die weisen Sterndeuter aus dem Morgenland aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht [Hos 11,1]: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht [Jer 31,15]: »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er einen Befehl und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.

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Was bestimmt mein Leben? Der Zufall? Das unergründliche Spiel der Moleküle? Der Lauf der Sterne? Ein launischer Gott? Ein geheimer Plan, vor ewigen Zeiten geschmiedet?

Josef wusste nichts von alle dem. Er hörte einfach auf seine Träume, denn in seinen Träumen sprach ein Engel und gab Anweisungen. Jetzt also die Anweisung zur Flucht aus Israel nach Ägypten. Immerhin nannte der Engel auch einen Grund: Herodes wolle das Kind umbringen. 

Das genügte dem Josef, um zu fliehen. Er fragte nicht weiter nach, er musste das auch nicht. Es war plausibel. Das gibt es ja leider bisweilen, dass in einem Land die allgemeine Lage so bedrückend ist, das du nicht weiter nachfragen musst. Alles ist an Unheil möglich, auch das Absurdeste und Grausamste. Alles ist vorstellbar, es bedarf bei Despoten, die um ihre Macht fürchten, keiner Logik. Man muss nicht fragen, welchen Sinn etwas mache. Und so fragte auch Josef nicht: Warum ich? Ich habe mich nie politisch geäußert, habe mich immer rausgehalten, warum ich? Alles ist denkbar, auch die Ermordung Unschuldiger, auch die Ermordung kleiner Kinder, die nichts getan haben. Und wenn dann ein Engel im Traum sagt. „Flieh!“, dann fragt man nicht warum, sondern flieht. 

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Osama und Kamal, kamen vor über zehn Jahren aus Syrien nach Hamburg. Ob den Brüdern ein Engel im Traum erschienen ist und gesagt hat: „Geht! Flieht!“, weiß ich nicht. Es braucht eigentlich keinen Engel mehr, wenn am Himmel die Hubschrauber der Armee auftauchen und mit Nägeln gefüllt Fassbomben abwerfen. Die Grausamkeit von Despoten, die um ihre Macht kämpfen, kennt keine Grenzen, heißen sie nun Herodes oder Assad. 

Osama blieb in Hamburg, Kamal kehrte schon 2015 wieder nach Aleppo zurück und schloss sich der freien syrischen Armee an. Er hielt es nicht aus, untätig in Hamburg zu sitzen. Ob er das als seine Bestimmung betrachtete? Ob ihm ein Engel im Traum erschien und sagte: „Geh zurück und kämpfe!“? Kamal war nicht nur Kämpfer, er half auch sonst, wo er konnte, um das Leben im von Assads Schergen freien Teil Syriens einigermaßen erträglich zu machen. 

Jetzt ist Kamal tot, er ist gefallen, am gleichen Tag, als die Rebellen Damaskus erreichten, nur drei Stunden vor dem Sturz Assads. Seine Frau und seine beiden Kinder sind jetzt ohne ihn. War es seine Bestimmung das letzte Opfer Assads zu werden? Wer kann das sagen?

Osama, sein Bruder, will nun auch zurück nach Syrien. Osama will zu ihnen, zurück zur Familie. „Syrien ist jetzt frei, sagt er. Egal was kommt, alles ist besser als das Assad-Regime.“ Und fügt hinzu: „Mein Bruder war nicht radikal, nicht politisch aufgeladen. Mein Bruder war ein Träumer. Er hat von der Freiheit geträumt.“ (Quelle: NDR, Hamburg Journal vom 14.12.2024)

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Auch Josef war ein Träumer. Auch Josef kehrte zurück – nach Israel. Wieder gab ein Engel Anweisungen und nannte auch den Grund: die dem Kind nach dem Leben trachteten, sind nicht mehr. 

Und wieder riet ein Engel nicht in den Süden, nach Bethlehem zurück zu kehren, sondern in den Norden weiterzuziehen, nach Nazareth in Galiläa, denn Josef traute auch dem Nachfolger des Herodes nicht. 

Menschen fliehen vor Tyrannen und kehren zurück, wenn die Tyrannen nicht mehr sind. Alle Tyrannen sind sterblich, und manchmal fällt ihre Tyrannei wie ein Kartenhaus zusammen und keiner ahnte, dass es so hohl war. Mit der Angst kann man riesig Hohlräume aufblasen. 

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Im Leben des Heilands, liebe Gemeinde, läuft von Anfang an alles nach einem höheren Plan. Josef kannte ihn nicht, aber Matthäus kannte ihn. Der Evangelist fand ihn in den alten Schriften Israels. Der Plan begann, sich schon vor der Geburt des Heilands zu erfüllen. Ein Engel intervenierte, damit Josef bei Maria blieb, als die schwanger wurde – nicht von ihm, so viel wusste er. Wenig später wurde den Magiern aus dem Morgenland im Traum befohlen, nicht wieder zu Herodes zurückzukehren und ihm von dem Kind zu berichten, sondern direkt nach Hause zu gehen. Und dann die Flucht nach Ägypten und dann die Rückkehr aus Ägypten. Alles läuft nach einem Plan, der in den Schriften Israels niedergelegt ist. Engel sorgen für die Erfüllung des Plans, Träume sind die Schaltstellen. 

Die Botschaft des Plans: Jesus ist der neue Mose. Wie das Leben des Moses schon als Kind bedroht war, weil der Pharao befahl, die Kinder der Hebräer zu töten, damit sie nicht zu viele würden, so war auch das Leben Jesu als Kind bedroht, weil der Despot Herodes einen Konkurrenten fürchtete. Und wie Mose sein Volk aus Ägypten nach Israel führte, so kam auch Jesus, der Retter, aus Ägypten. 

Das Leben des Heilands verläuft nach einem höheren Plan und einem gezielten Muster. Der Retter der Welt läuft in den Bahnen des Retters Israels. 

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Von all dem wusste Josef nichts. Er kannte keine höheren Pläne, weder über sein eigenes Leben noch über das seines Sohnes. Er hört nur auf seine Träume und vertraute dem Engel. 

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Gibt es höhere Pläne auch für uns? Nicht nur für den Heiland, sondern auch für jeden von uns? 

Manchmal hat man ja eine Ahnung, es könnte sie geben. Wenn du nach einer langen Zeit der Unsicherheit wieder festen Boden unter dir spürst und sagen kannst: „Es hat sich doch alles gut gefügt.“ Wenn in deinem Leben etwas ganz anders gekommen ist, als du es dir vorgestellt und gewünscht hast, und du am Ende sagen kannst: „Es hat so sein sollen.“ 

Das sind die Ahnungen, dass es einen höheren Plan über dein Leben geben könnte. Mehr als solche Ahnungen wirst du nicht bekommen können. Jedenfalls nicht mit Blick auf dein Leben. Mehr bekommst du nur mit Blick auf die Schriften. Denn dort steht geschrieben, was aus uns werden soll. 

Den Plan für das Leben des Heilands fand der Evangelist in den Schriften Israels. Denn der Heiland ist der Erwählte Gottes. Und in ihm bist auch du ein Erwählter Gottes. Darum steht in den Schriften auch der Plan Gottes über dein Leben geschrieben. 

In Sätzen wie diesen:

Durch Christus hat Gott uns erwählt vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und makellos seien vor ihm, in Liebe. Er hat uns schon seit langem dazu bestimmt, seine Söhne und Töchter zu werden durch Jesus Christus, nach seinem gnädigen Willen, zum Lobpreis seiner herrlichen Gnade, mit der er uns beschenkt hat in seinem geliebten Sohn. … Denn Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um ihn auszuführen, wenn die Zeit erfüllt wäre. (Eph 1,4-10). Epheserbrief. Worte unserer Bestimmung.

Die Bestimmungen unseres Lebens sind offenbar. Sie stehen geschrieben im Buch des Lebens. 

Wir lesen sie und werden sehen, wie sich eins ins andere fügt. Wir verstehen die Wege, die wir geführt werden, nicht immer gleich. Aber wir vertrauen darauf, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten dient, ihnen, die nach seiner freien Entscheidung berufen sind. Die er aber zuvor erwählt hat, die hat er auch im Voraus dazu bestimmt, nach dem Bild seines Sohnes gestaltet zu werden, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. (Röm 8,28f) Römerbrief. Worte unserer Bestimmung. 

Lebe dein Leben, geh deine Wege! Den Plan deines Lebens, die Route deiner Wege hat Gott längst in Christus vorgezeichnet. Es sind die Rettungswege von Anfechtung, Sünde und Tod. Es sind die Lebenswege zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe. Wer den Verheißungen des Evangeliums traut, wird den Plan seines Lebens verstehen. Lebe dein Leben, geh deine Wege, trau den Schriften, trau deinen Träumen und nimm an den Rat des Engels.

Amen. 

 

Fürbittengebet 

Gott, du Licht der Welt,

lass deinen Stern auch in unserem Leben aufgehen, damit wir erfahren, dass unsere Suche keine Irrfahrt ist, sondern ein Heimweg zu dir.

Zeige uns auch im neuen Jahr, wo wir dich finden werden.

Lass dein Licht in unser Leben scheinen, dass wir uns selbst annehmen können, so wie wir sind und dann auch die, die um uns sind.

Lenke die Träume, dass uns raten und nicht verwirren. 

Jesus Christus, du kamst als Friedefürst in unsere Welt. Nun sei ein Friedefürst denen in der Ukraine, denen im Gazastreifen und in Israel, denen im Libanon und in Syrien. Sei uns allen Friedefürst, allen Menschen guten Willens. 

Wir bitten dich heute besonders für die Menschen in Syrien, dass sie sich wieder ein Land aufbauen können, in dem sie gut und gerne leben. 

Wir bitten dich für das, was uns am Herzen liegt, für das, was uns in diesen Tagen beschäftigt hat, für die Menschen, die uns nahestehen und auch für die, mit denen es nicht leicht ist.

Wir bitten dich für diejenigen, die Dunkelheit in ihrem Leben erfahren, für die Enttäuschten und Verbitterten, für alle, die sich selbst im Wege stehen und ihre Hoffnungen begraben haben und für die Kranken und die Sterbenden: Mach sie gewiss, dass du das Ziel ihres Lebens kennst, dass du das Ziel ihres Lebens bist. Amen. 

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