Gott bringt die Welt zu Recht
Pfarrer Dr. Matthias Loerbroks

Er sagte ihnen ein Gleichnis dazu, dass man allezeit beten muss und nicht nachlassen. Es war ein Richter in einer Stadt, der Gott nicht fürchtete und keinen Menschen scheute. Es war aber eine Witwe in jener Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sagte: schaffe mir Recht gegen meinen Rechtsgegner. Er aber wollte eine Zeit lang nicht. Danach aber sprach er zu sich selbst: wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen scheue, der Mühe wegen, die diese Witwe mir bereitet, werde ich ihr doch Recht verschaffen, damit sie nicht am Ende kommt und mich ins Gesicht schlägt. Der Herr sprach: hört, was der ungerechte Richter sagt. Gott aber – wird er nicht Recht herstellen seinen Erwählten, die zu ihm schreien Tag und Nacht, und nicht langmütig mit ihnen sein? Ich sage euch: er wird ihr Recht herstellen – schnell. Jedoch: wenn der Menschensohn kommt, wird er den Glauben finden auf der Erde?

Am Ende des Kirchenjahrs bedenken wir das Ende aller Dinge, das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Dazu gehört die Erwartung, dass Gott als Richter sich betätigen oder sein Richten einem anderen übertragen wird: dem Menschensohn. Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, schreibt Paulus. Dass Gott richtet, das ist oft als bedrohlich, als Schreckensnachricht empfunden und verkündet worden. Doch für die biblischen Autoren ist das etwas Gutes, ein Hoffnungswort. Gott bringt die Welt zu Recht, schafft denen Recht, die nicht zu ihrem Recht kommen: Armen, Erniedrigten, Bedrückten. Stellvertretend für sie alle stehen in der Bibel oft die Witwen und die Waisen. Richte!, schaffe Recht!, ist eine häufige Aufforderung an Gott im Buch der Psalmen.

Auch die Aufgabe irdischer, menschlicher Richter ist, denen Recht zu schaffen, die Unrecht leiden. Das ist auch der Grund, warum in der Bibel das Recht, geschriebenes Recht, gesprochenes Recht so wichtig ist. Biblisches Recht ist Armenrecht – die Mächtigen kommen gut ohne Recht und Richter aus, können auf das Recht des Stärkeren setzen, auf die Macht des Faktischen. Zu richten ist auch die vornehmliche Aufgabe von Königen, wenn es sie denn gibt und geben soll, was ja biblisch umstritten ist. Im Psalm 72 wird so ein König geschildert und gepriesen. Sein Richten für Arme und Unterdrückte und damit sein befreiendes Tun ist so eindrucksvoll, dass auch die anderen Völker und ihre Könige sich ihm unterwerfen. Auch Götter sollen Entrechteten zum Recht verhelfen. Im Psalm 82 wird deutlich: der Gott Israels hat an sich nichts dagegen, dass es andere Götter gibt, wenn sie denn diese Aufgabe erfüllen. Da sie das nicht getan haben, werden sie entlassen, degradiert, werden sterblich wie Menschen.

Diese große Erwartung an Richter und ans Rechtsprechen prägt auch die Geschichte, die Jesus erzählt. Darum läuft ja die Witwe immer wieder zum Richter, will erreichen, dass er ihr Recht verschafft. Die Witwe steht auch hier für Arme und Unterdrückte, steht vielleicht auch stellvertretend für ganz Israel, das mit Psalm 43 ruft: Richte! Schaffe mir Recht! Witwen verkörpern in der Bibel oft ein Israel ohne Zukunft oder mit gefährdeter Zukunft. Von dem Richter heißt es, er fürchte Gott nicht und scheue keinen Menschen. Das klingt in unseren Ohren ja erst einmal nicht schlecht. Das könnte ein wirklich unabhängiger Richter sein, der sich weder von religiösen Vorstellungen – Gottesfurcht – leiten lässt noch von Rücksichten auf Menschen, die ihm vielleicht gesellschaftlich oder persönlich nahestehen. Doch in der Bibel ist die Furcht Gottes der Anfang der Weisheit – neben Rechtskenntnissen braucht man auch die zum Richten – und befreiendes Tun für Arme und Entrechtete, Witwen und Waisen Inbegriff der Rechtsprechung.

Dieser Richter tut das nicht, er tut augenscheinlich überhaupt nichts. Er will nicht, heißt es knapp. Es wäre viel Arbeit, sich mit der Sache der Witwe gründlich zu befassen, Beweise und Belege zu prüfen, Zeugen zu befragen, ein präzises und unwiderlegbares Urteil zu schreiben. Dass er sich unbeliebt macht bei Reichen und Einflussreichen, wenn er der Witwe Recht verschafft, kann nicht sein Motiv sein, er scheut ja keinen Menschen. Er ist nicht menschenscheu, aber möglicherweise arbeitsscheu. Ein Richter, der nicht richtet, nicht Recht schafft und verschafft – für die Witwe ist das ein Schlag ins Gesicht, und so klingt es durchaus plausibel, wenn der Richter befürchtet, dass die Witwe ihm ihrerseits ins Gesicht schlägt. Das würde passen. Doch die Witwe ist schon jetzt eine Nervensäge, und diese Säge sägt erfolgreich: die Nerven des Richter geben nach. Die Mühe, die es macht, die Sache der Witwe durchzusetzen, ist auf die Dauer doch geringer als die, die die Witwe ihm macht.

Es ist irritierend, dass Jesus die Geschichte von einem ungerechten Richter erzählt, um zu illustrieren, dass es ein Muss ist, allezeit, immerzu zu beten und damit nicht nachzulassen. Und es wäre kein ernsthaftes Beten, wenn wir nicht unsererseits ebenso unentwegt alles, was uns möglich ist, dafür tun, dass das geschieht, worum wir bitten. Jesus lädt uns dazu ein, uns mit dieser impertinenten Witwe zu identifizieren. Gerade wir Protestanten sind es nicht gewöhnt, von Gott Recht einzufordern, einzuklagen. Wir neigen eher dazu, ihn darum zu bitten, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Doch sind ja beide Teile der Bibel voll der Verheißungen einer neuen Welt, eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Jesus findet es darum angemessen, dass wir wie die Witwe darauf insistieren, dass diese Gerechtigkeit geschieht, unser Recht einklagen. Entsprechende Aufrufe hat er uns an die Hand gegeben: Dein Reich komme, soll die noch herrschenden Mächte und Gewalten ablösen. Und darum auch: dein Wille geschehe – im Himmel, im unsichtbaren, aber wirksamen Bereich der Ideen und Ideologien, und auch ganz materiell auf Erden. Jesus sagt damit: Gott ist kein unwandelbares Wesen, kein unbewegter Beweger, sondern zu bewegen, zu beeinflussen. Und er verspricht: Gott wird seinen Erwählten Recht schaffen, die Tag und Nacht zu ihm schreien, und zwar schnell. Doch dies Versprechen ist nicht recht tröstlich, wenn wir es mit jemandem zu tun haben, für den tausend Jahre wie ein Tag sind und – ein sprechender Vergleich – wie eine Nachtwache. Das weiß Jesus auch, und so fügt er seiner festen Zusage eine besorgte Frage an: Wenn der Menschensohn kommt – der, dem Gott das Richten übertragen hat –, wird er den Glauben, das Vertrauen finden auf der Erde? Das ist eine Frage an uns, an unser Durchhaltevermögen.

Amen.